60.Kapitel

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Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben zu geben
~ Alexis Carrel

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"Ich hoffe, dass du dich nicht änderst und anderen Menschen immer unabhängig von ihren Taten verzeihst."

Herr Adelbauer wusste es schon die ganze Zeit.
Ich wurde von jedem verarscht.

Seit Tagen spreche ich nicht mehr mit meinen Eltern und überlege, wie es wohl sein wird, wenn ich tot bin.

Werden die anderen mich vermissen?
Werden sie mich vergessen?

Ich habe keine Angst vor dem Tod.
Nicht mehr.
Ich habe in diesem einen Jahr so oft mein Leben riskiert, da ist es okay, dass etwas nicht klappt und ich sterbe.

Doch ich habe jetzt Angst, nämlich vor der Reaktion meiner Klasse und vor allem meiner Freunde, wenn sie es erfahren.
Sie sollen nicht traurig sein, nicht wegen mir.

Nervös gucke ich aus dem Fenster der Straßenbahn, die mich zur dritten Stunde in die Schule bringt.
Frau Winterbauer weiß schon Bescheid und ich werde nur mich verabschieden; keiner weiß, was vorgeht.
Und das ist auch gut so.

Vor dem Schulgebäude steige ich aus und lasse mir Zeit, während ich unser Klassenzimmer ansteuere.
Alle sitzen gelangweilt im Deutschunterricht, sie haben keine Ahnung von meinem Besuch.

Als ich den Gang entlangschreite, gehe ich mir unbewusst durch die Haare, dessen Verlauf heute von braun zu rosa ist (Bild 3) .

Viele Erinnerungen tauchen vor meinem geistigen Auge auf:
Wie ich lachend mit meinen besten Freunden herumlaufe, wie ich mit Helena über alles mögliche tratsche, wie Gina und ich Schüler beobachten und ihre Hässlichkeit bewerten.
Das alles war für mich immer selbstverständlich gewesen, doch jetzt fällt mir erst auf, wie wertvoll solche einfachen Momente sind.

Ich atme noch einmal tief ein und drücke dann die Türklinke herunter.
Keiner der Schüler schaut auf, da Frau Winterbauer ihnen gerade etwas diktiert.

Leise schließe ich die Tür und muss lächeln, als ich sehe, dass Felix alles von Sarah abschreibt, weil er nicht mitkommt.

"Ich glaube, da will euch jemand besuchen.",lächelt Frau Winterbauer und in wenigen Sekunden richten sich mehr als zwanzig Augenpaare auf mich.

"Hey Leute.",beginne ich verlegen grinsend, doch angesichts der Neuigkeiten, die ich ihnen mitteilen werde, verzieht sich mein Gesicht zu einer ernsten Maske.
"Ich bin heute gekommen, um mich zu verabschieden."

Verblüfft fragen Helena und Gina:"Warum?"

Ich schlucke und mein Herz schmerzt wie verrückt, wenn ich daran denke, wie die Bungalowgang reagieren wird.
Dadurch beginnen die Brustschmerzen und ich senke meinen Blick, bevor ich ihnen tapfer in die Augen sehe.
"Ich habe Lungenkrebs, deswegen auch die Perücke. Und ich wollte euch noch einmal sehen, bevor-"
Meine Stimme bricht.

Eine Person stürzt an mir vorbei aus dem Klassenzimmer hinaus und ich weiß sofort, dass es Amelie ist, als Sarah und Felix ihr schnell mit gesenkten Köpfen folgen.

Ich überlege, ihnen hinterher zu laufen, doch als Helena mich umarmt, verwerfe ich diese Idee.
Sie lässt mich los und meint:"Bleib du, selbst wenn du stirbst."
Nach der Reihe schließen mich alle in ihre Arme und es fließen teilweise Tränen.
Auch meine Augen sind schon glasig, als die letzte, nämlich Gina, vor mir steht und mich trotz den Tränen, die sie vergießt, warm anlächelt.
Lange stehen wir in einer Umarmung da, ohne uns loszulassen und sie flüstert:"Warte auf mich, bis ich auch dort drüben ankomme."
Ich schluchze auf und verspreche:"Ja, ich werde warten."

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