1 - Mensch oder Monster?

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Ich stand in dem Innenhof des viergeschossigen, mit rotem, bereits moosigen Backstein verkleideten Gebäudes, welches mit zwei dicken, stacheldrahtumwickelten Zäunen umschlossen war. Die kleinen Fenster waren zusätzlich mit Metallgittern gesichert und ab und an lugte eine Satschüssel aus ihnen hervor. Obwohl es bereits Anfang Juni war, standen dicke Cumuluswolken am Himmel, welche die Umgebung in ein erdrückendes Grau tauchten und nur vereinzelt Sonnenstrahlen durchdringen ließen. Ich festigte meinen Griff um die Unterlagen, die ich in meinen Armen hielt. Die letzten Wochen war ich so oft hier gewesen, doch noch immer hatte ich mich nicht an den Anblick gewöhnt. Trotz der Tatsache, dass ich hier ein- und ausgehen konnte, wie ich wollte, überkam mich immer ein beklemmendes Gefühl, wenn ich dieses Gebäude betrat. Doch was führte mich eigentlich an solch einen Ort?

Da ich schon immer meine Freizeit damit verbrachte, in die Fantasiewelten von Büchern abzutauchen, war für mich früh klar, dass ich Autorin werden wollte. Neben meinem Germanistikstudium hatte ich begonnen, mein erstes Werk zu verfassen. Ich hätte zwar genug Geschichten aus meinem eigenen Leben zu erzählen, doch mein Debüt sollte etwas ganz Anderes werden: Ich wollte die Menschen zu Wort kommen lassen, denen man sonst kein Gehör schenkte. Jene, die von allen verachtet und aufgegeben worden sind. Zu dem Zweck war es mir gestattet, einige Gefangene dieser Justizvollzugsanstalt zu interviewen.

Bisher hatte ich Gespräche vor allem mit Kleinkriminellen geführt, die jedoch bald wieder zurück in ihr Leben konnten und weiterhin Teil der Gesellschaft sein würden, ganz gleich, was sie getan hatten. Doch heute würde ich noch einen Schritt weiter gehen können und die Welt von jemandem kennenlernen, der viel mehr Schuld auf sich geladen hatte, als den lokalen Supermarkt zu bestehlen oder Steuern zu hinterziehen. Der Mann, den ich heute treffen würde, hatte mit seinen eigenen Händen ein Leben beendet. Er war ein Mörder.

Bei der Vorstellung, in wenigen Minuten einer Person gegenüberzusitzen, der solch eine kaltblütige Tat begangen hatte, jagte ein kalter Schauer meine Wirbelsäule hinab und die Haare in meinem Nacken stellten sich auf. Ich schüttelte mich, als es mir fröstelte.

Doch ich hatte mir dieses Thema nicht ausgesucht, um jetzt wie ein zitterndes Häufchen Elend vor ihm zu sitzen. Ich hatte mich dazu entschieden, weil ich die Gedanken und Empfindungen solcher Menschen nachvollziehen wollte, weil ich sie verstehen wollte. Ihnen ein Gesicht geben. Eine Stimme.

Ich atmete noch einmal die frische Luft ein, ehe ich mit gestrafften Schultern auf die, im Vergleich zu dem Rest des Gebäudes, winzig wirkende Eingangstür zuging.

„Na, Kleines", begrüßte mich die vertraute Stimme des Justizvollzugsbeamten, der mich bisher jedes Mal in Empfang genommen hatte.

„Hallo, Daniel", grüßte ich ihn und boxte ihm gegen den Bauch, weil ich ihm schon gefühlte tausend Mal gesagt hatte, dass er mich nicht so nennen sollte, „Bestseller Autorin, heißt das", verbesserte ich ihn.

Er lachte.
„Möglicherweise bald. Du kannst durchgehen zur Leibesvisite bei Tanja."

„Ja, Sir!", rief ich und salutierte.

Daniel konnte nicht viel älter sein als ich, denn obwohl er groß und kräftig gebaut war, hatte sein Gesicht noch sehr weiche, rundliche Züge, die selbst von seinem dunkelblonden Stoppelbart nicht vertuscht werden konnten. Wir hatten uns auf Anhieb gut verstanden und ein lockeres Verhältnis zueinander. Vielleicht musste man in einer solchen Einrichtung aber auch etwas Humor haben, um nicht auf Dauer durchzudrehen.

Tanja war eine Frau mittleren Alters und eher von schweigsamem Gemüt. Mit fachmännischen Griffen durchforstete sie meinen Körper nach spitzen Gegenständen, Waffen und allem anderen, was in dem Gefängnis verboten war. An der ein oder anderen Stelle musste ich blöd kichern, weil ich so kitzlig war, letztendlich konnte ich, wie sonst auch, passieren.

Nun kam die normale Prozedur: vorne auf, hinten zu, vorne auf, hinten zu. Am Ende hatte ich so zusammen mit Daniel unzählige Sicherheitsschleusen und Türen passiert. Er brachte mich in das Besucherzimmer, in dem ich bisher alle meine Gespräche geführt hatte. Eigentlich war alles wie immer. Also kein Grund nervös zu sein.

Scheiße, doch, ich war verdammt nervös! Um ehrlich zu sein, ging mir der Arsch ganz schön auf Grundeis. Als ich mich auf den Stuhl setzte, meine Unterlagen vor mich auf den Tisch legte, bemerkte ich erst, dass meine Hände schon ganz schwitzig waren. Ich wischte meine Handflächen an meiner Jeans ab und strich mir meine haselnussbraunen Haare hinters Ohr. Ich hätte mir doch lieber ein Haargummi mitnehmen sollen.

Wieso war ich überhaupt so aufgeregt? Es war ja nicht das erste Mal, dass ich hier saß und mit einem Gefangenen reden würde. Abgesehen davon war er ein Mensch und kein Monster. Um das zu zeigen, war ich hier! Meine Gedanken wurden von Geraune auf dem Flur unterbrochen. Was war das nur für ein Tumult da draußen? Ich warf einen fragenden Blick zu Daniel, welcher nur mit den Schultern zuckte und mit einem „Ich schau mal nach" den Raum verließ.

Meine anfängliche Angst wurde von der Neugierde überschattet, und während ich angestrengt lauschte, vergaß ich meine Aufregung. Plötzlich wurde die Tür wieder aufgeschlossen und Daniel betrat das Zimmer. Mit festem Griff hielt er einen Mann am Arm gepackt, der seinen Kopf gesenkt hatte und blaue Sträflingskleidung trug. Der Kragen war durch frische Blutflecken dunkel verfärbt. Daniel ließ den Insassen auf den Stuhl mir gegenüber Platznehmen und ließ seine Hand noch einen Moment an seinem Arm ruhen.

„Reiß dich zusammen, Liam. Du willst doch nicht auf den letzten Metern noch alles aufs Spiel setzen!", ermahnte er ihn verzweifelt, seufzte und warf mir einen kurzen Blick zu. Als ein weiterer Beamter mit leichten Schweißtropfen auf der Stirn und einem gestressten Gesichtsausdruck zu uns stieß, verabschiedete sich Daniel mit einem Nicken.

Für einen Moment herrschte eine bedrückende Ruhe in dem Raum, in der ich nur vernahm, wie der Sträfling angestrengt die Luft in seine Lungen zog. Es dauerte eine Weile, bis ich meinen Mut zusammennahm und ihn ansprach.

„Herr ...", ich machte einen absichernden Blick auf meine Notizen, „Winterfeld? Ist alles in Ordnung?"

Als er endlich seinen Kopf hob und ich sein Gesicht sehen konnte, stockte mir der Atem. Ich hatte mir einen Mörder ganz anders vorgestellt!

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Wie stellt ihr euch einen Mörder vor? Und wie wird Liam wohl aussehen! :O
Wir freuen uns über Feedback und ein Vote, wenn es euch gefallen hat!

>>Nächstes Kapitel: Mord ist ein komplexes Thema

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