Weihnachtsspecial - Dieses Jahr ist es anders

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Grün, rot und gold, das waren die Farben, mit denen die meisten Menschen Weihnachten assoziierten. Doch für ihn war es grau und schwarz, wie jeder andere Tag in der Justizvollzugsanstalt auch. Während in der Welt draußen die Glocken läuteten, klingelten hier nur die Ketten und die Schlösser. Es gab keinen Kerzenschein, keinen Glitzer, keine Sterne, keinen Engel und auch keinen Geruch von Vanille und Zimt. Hier gab es das flackernde Licht der Neonröhren, es gab Verbrecher, Beamte und den Geruch von Schweiß und Urin. Weihnachten - das Fest der Liebe. Was bedeutete das für einen Jungen, der ohne dieses Gefühl aufgewachsen war? Es bedeutete Schmerz, Bitterkeit und Einsamkeit. Während viele der Insassen auf die festlichen Tage hinfieberten, wollte er sich am liebsten in seiner Zelle einschließen und nicht mehr herauskommen. Die einzigen Tage im Jahr, an denen er sich das wünschte. Das einzig Positive an der ganzen Weihnachts-Sache war das Essen, denn zu heilig Abend, gaben sich die Köche wirklich Mühe. Denn dann gab es ein besonders gehobenes Gericht, mit besseren Zutaten als sonst. Ja, sogar der Nachtisch wurde selbst gemacht und Liam war für eben diesen eingeteilt. Immerhin konnte er in der JVA eine Ausbildung zum Koch absolvieren und die wenigsten rissen sich darum, an diesem Fest, hinter dem Herd zu stehen. Die Zutaten für das Dessert hatte er bereits vorbereitet und nun galt es nur noch, sie in die kleinen Plastikbecher zu schichten. Eine große Hand mit krummen Fingern, geschwollenen Gelenken und Haut wie altes, fleckiges Leder, schob ihm einen weiteren Becher herüber und Liam begann abwechselnd in Saft eingelegten Lebkuchen, Sauerkirschen und Sahne-Quark-Creme in das Gefäß zu füllen. Zum Schluss ließ er Schokosplitter wie Schnee auf die weiße Haube hinabrieseln und setzte eine einzelne, dunkelrot glänzende Kirsche oben drauf.

„Normalerweise wird der Lebkuchen noch in Grand Marnier, also Orangenlikör, getränkt, aber darauf müssen wir verzichten", die Stimme des Mannes neben ihm war rau und rasselnd, wie das Knurren eines alten Bären. Ohne dem Alten eine Antwort zu geben, arbeitete Liam weiter. Wie am Fließband.

Wie ein Roboter.

Ohne Seele.

Doch leider nicht ohne Gefühle.

„Du wirkst heute sehr ausgebrannt, Liam", brummte der Alte weiter und ließ seine große Pranke auf dem nächsten Becher liegen, sodass er ihn nicht füllen konnte. Liam starrte hinab auf seine eigenen Hände, die in milchigen Latexhandschuhen steckten und schon von der Creme und dem roten Kirschsaft ganz dreckig waren. Kurz ballte er sie zu Fäusten, löste sie dann wieder und atmete tief durch.

„Es ist Weihnachten, und das solltest du doch besonders schätzen", mit einem Finger zeigte er auf das Kreuz, welches Liam auf seinem Unterarm tätowiert hatte. Da er die Ärmel zum Arbeiten hochgekrempelt hatte, war es für jeden gut sichtbar.

„Ich habe keine Verträge mit Weihnachten", raunte Liam kühl und wollte nach dem Becher greifen, doch der Alte zog ihn flink zurück. Er seufzte tief und sah nun endlich zu seinem Kollegen auf. Seine hellgrauen Augen hatten einen dunkelblauen Ring um die Iris und waren von tiefen Fältchen umgeben, die sich fast bis zu den Ohren zogen. Ein weiß-grauer, krauser Vollbart verdeckte das Meiste seines Gesichtes, doch ein winziges Merkmal war stets zu erkennen: Es war eine kleine Träne, die ihm unter dem Auge in die Haut gestochen war. Die Zeit hatte sie verblichen und verwaschen, doch sie würde nie gänzlich verschwinden. Kurt Bergmann war sein Bürgerlicher Name, doch von den Insassen wurde er nur liebevoll „der Bär" genannt. In vollkommener Ruhe saß er den ganzen Tag da und schnitzte in unfassbarer Liebe zum Detail Figuren. Als gelernter Schreiner war Holz sein Element und es war Liam stets ein Rätsel gewesen, wie er mit diesen gigantischen, behaarten Bärenpranken solch filigrane Arbeit verrichten konnte. Von ihm hatte er es gelernt. Das Schnitzen. Der Bär war vor ihm hier gewesen - und er würde auch nach ihm noch hier sein. Was er getan hatte, dass er einen Großteil seines Lebens hier verbringen musste, hatte er nie verraten.

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