6 - Nicht der Richtige

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   "Nicht hyperventilieren", hörte ich Liams Stimme weit entfernt und spürte, wie sich etwas Warmes um meine Hand schloss. Mein Atmen beruhigte sich wieder ein wenig und mein Verstand kehrte in die Realität zurück, fort von den schrecklichen Bildern, die sich in mein Gedächtnis gebrannt hatten. Als ich hinab zu der Wärmequelle sah, erkannte ich, dass Liam meine Hand umschlossen hielt und ein Blick in seine Augen verriet mir die Sorge. Auch der Wachmann hatte sich von seiner Position gelöst und war einen Schritt näher gekommen.
  "Keine Berührungen", rügte er Liam, welcher daraufhin direkt wieder von meiner Hand abließ. Als mir bewusst wurde, dass ich ausgesehen haben musste, als stünde ich kurz vor der Ohnmacht, lachte ich peinlich berührt und zog schnell meine Hand fort.

   "Alles gut, alles gut!", beruhigte ich die beiden Männer, "ich bin einfach zart besaitet". Verdammt! Jetzt wurde es aber Zeit, dass ich mich zusammenriss und das tat, weswegen ich hier war. Die ganze Sache ging mir näher, als sie sollte. Ich setzte mich aufrechter hin, ordnete meine Notizen vor mir  und die Gedanken in meinem Kopf. Ich reckte mein Kinn, straffte die Schultern und festigte meinen Blick auf dem Insassen mir gegenüber.
   "Wieso musste dieser Mann sterben, Liam?"
   "Ich habe ihn gehasst", antwortete er erstaunlich zügig, doch das war offenbar noch nicht alles,  "er hat etwas Unverzeihliches getan."
   "Was kann so schlimm sein, dass man dafür sterben muss?", fragte ich ihn und drückte die Spitze des Kulis angespannt auf das Papier. Doch er lehnte sich schweigend auf seinem Stuhl zurück und löste seinen sonst starren Blick von mir, um sich im Zimmer umzusehen.
   "War es aus Eifersucht?" Das war zumindest das, was das Internet mir gestern ausgespuckt hatte.
   Meine Aufmerksamkeit wurde nun wieder auf seine Hände gelenkt, als ich sah, wie er diese zu kneten begann und schließlich mit seinen Daumen die Mittelfinger herabdrückte, bis ein fürchterliches Knacken zu hören war.
   "Ich möchte nicht darüber reden, Helena." Die Art, wie er meinen Namen aussprach, ließ mir einen Schauer über den Rücken jagen und ich beschloss, dieses Thema vorerst auf sich beruhen zu lassen. Immerhin sollte das hier kein Verhör werden, sondern ein Interview.
   "O. k., dann zu einem anderen Punkt." Ich war froh, die Situation entschärfen zu können, "Was hast du vor deiner Haft gemacht? Warst du schon fertig mit der Schule? Hast du etwas gearbeitet?" Auch Liam schien sich bei diesen banalen Fragen etwas zu entspannen, denn sein Blick richtete sich wieder auf mich.
   "Naja, um ehrlich zu sein, bin ich recht früh auf 'die schiefe Bahn' geraten. Ich habe gestohlen, gedealt, verbotene Substanzen zu mir genommen und mit Prostituierten geschlafen", erzählte er mir mit einem Schulterzucken und ruhiger Stimme, als wäre es das Normalste auf der Welt, "ich habe auch keinen wirklichen Schulabschluss gemacht, muss ich gestehen. Es regnete Vorladungen für meine Eltern und Verweise. Generell hatte ich ein Problem mit Autoritäten. Ich prügelte mich auf dem Schulhof, klaute Geld und geriet schließlich an die falschen Leute. So nahm das Schicksal seinen Lauf. Meine Abschlüsse konnte ich ja zum Glück hier, während ich meine Strafe absaß, nachholen." Ich notierte mir alles und sah ihn dann dennoch fragend an.
   "Wieso hast du Geld gestohlen? Ich dachte, du kommst aus besseren Verhältnissen?" "Das hatte verschiedene Gründe. Mal war es der Kick, mal hatte es derjenige verdient, mal brauchte ich es einfach. Nur weil ich aus gutem Haus komme, bedeutet das nicht, dass mir meine Eltern ein viel höheres Taschengeld geben. Mein Vater war geizig und meine Mutter lebte im Luxus und hätte für mich auf nichts verzichtet."
   Ich legte meine Stirn in Falten, als ich versuchte die Emotionen hinter seinen Worten zu erkennen. Vergeblich. Er schien dabei vollkommen ruhig und distanziert zu sein.
   "Kommen sie dich oft besuchen?"
   Er schüttelte den Kopf.
   "Nein, gar nicht. Wir haben nicht das beste Verhältnis zueinander."
   "Wer kommt dich denn dann besuchen?", Mitgefühl schlich sich ungewollt in meine Stimme.
   "Du", antwortete er und auf seinen Lippen bildete sich ein mildes Lächeln, welches zum ersten Mal auch seine Augen erreichte, denn seine Lider mit den langen, dunklen Wimpern schlossen sich minimal und ein leichter Glanz war in ihnen zu erkennen.
   Verdutzt blinzelte ich einige Male. War ich denn die Einzige? Und im Endeffekt war ich sogar nur wegen meines Buches hier und nicht als eine Freundin. Bei dem Gedanken an den Hintergrund meines Besuches, fiel mir meine Frage und seine ausweichende Antwort von unserem letzten Gespräch wieder ein:
   "Warum bist du nicht der Richtige?", fragte ich wie aus dem Nichts und Liam schien überhaupt nicht zu wissen, was ich meinte und kräuselte seine Brauen.
   "Du meinst, weil ich einsitze?", fragte er, "aber, bald bin ich ja frei. Vielleicht bin ich dann ja der Richtige, wenn es dich abschreckt, dass wir uns nur ab und an im Besucherraum sehen können."
   Der Verwirrtheits-Ball war wieder an mich zurückgeworfen worden. Ich versuchte angestrengt zu verstehen, was er von mir wollte, doch am Ende kam nur ein nicht sehr intelligentes "Hä?", über meine Lippen.
   Liam schmunzelte belustigt.
   "Du hast gefragt, warum ich nicht der Richtige bin. Und abgesehen davon, dass ich im Gefängnis sitze und ein Menschenleben auf dem Gewissen habe, bin ich intelligent, gebildet und attraktiv. Also durchaus kein schlechter Fang."
   Nun fiel sogar bei mir der Groschen und zwar so laut und scheppernd, als wäre er direkt auf einen Gong gefallen, sodass nun selbst jeder chinesische Mönch davon bescheid wusste. Augenblicklich spürte ich, wie meine Wangen und Ohren heiß wurden. Mein Gesicht musste rot leuchten, wie eine Ampel.
   Weil ich aber nicht wieder die arme Maus sein wollte, die sich von dem selbstbewussten Kerl überrumpeln ließ, antwortete ich:
   "Naja um einer Ninja Prinzessin Autorin das Wasser reichen zu können, muss man eben schon mehr sein als kein schlechter Fang" und zwinkerte ihm nun meinerseits zu, was ihn tatsächlich dazu veranlasste nach rechts wegzublicken.
   "Bei unserem letzten Gespräch habe ich gesagt, dass das Buch, was ich schreibe, auch deines ist und dich gefragt, ob du etwas hast, was du der Öffentlichkeit gerne mitteilen möchtest. Daraufhin sagtest du, du seist nicht der Richtige dafür und unser Treffen wurde unterbrochen. Ich habe mir danach noch lange Gedanken gemacht, was du damit gemeint haben könntest. Was lässt dich glauben, dass du der Falsche bist, um die Stimme der Straftäter zu sein?"
   Liams stechende Augen durchbohrten mich mit ihrem intensiven Blick. Seine Iris sprang kaum merklich von rechts nach links und zurück, während er mein Gesicht still musterte.
   "Weil ich kein guter Mensch bin, Helena. In mir wirst du nicht das finden, was du suchst", hauchte er dann.

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Hat Liam sich aufgegeben oder ist er einfach nur realistisch? Kann überhaupt etwas Gutes in einem Mörder stecken und wenn ja - kann es all das böse aufwiegen?

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