4 - Overkill

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   Gleich beim ersten Eintrag sprang mir die Headline 19-Jähriger ermordet Zuhälter brutal in seiner Wohnung entgegen. Auf der Suche nach Informationen über Liam überflog ich den Artikel, der sich öffnete, als ich auf den Link geklickt hatte.
   "Am Abend des 23.Juni 2010 wurde der 28-jährige Martin C. in seiner Wohnung in Blabla kaltblütig ermordet. Bla, bla, bla ... wurde von der Freundin des Opfers alarmiert, die die Leiche mit dem noch anwesenden Täter fand ... De de de... geht derzeit von einer Tat aus Eifersucht aus." Eifersucht? Ich legte meinen Zeigefinger an meine Lippen und rollte mit meinem Schreibtischstuhl einige Zentimeter zurück. Nachdenklich kniff ich meine Augen zusammen. 2010 war Liam also 19 gewesen, dann musste er jetzt ... streng dich an, Gehirn! ... "27 sein!", presste ich angestrengt hervor, als wäre es eine Geburt und keine einfache Rechenaufgabe gewesen. Da der Artikel sonst nichts weiter hergab, scrollte ich hinab zu den Kommentaren, die sich darunter befanden:

Hoffentlich bekommt er lebenslänglich und wird nie wieder freigelassen.

Was für eine sinnlose Tat! RIP Martin.

Wieso? War doch ein Zuhälter. Umso besser!

Habt ihr die Bilder auf rotten.com gesehen?

-Eintrag von Redaktion gelöscht-

  Daraufhin folgte ich den geposteten Links zu der erwähnten Website und schlug mir die Hand vor den Mund. Mit zusammengekniffenen Augen drehte ich den Kopf zur Seite und bereute es, jemals meiner Neugierde gefolgt zu sein. Obwohl ich sofort reagiert hatte, war das blutige Bild in mein Gedächtnis gebrannt. Von dem Gesicht des Toten war kaum noch etwas zu erkennen, Knochensplitter ragten aus dem eingedrückten Schädel, welcher nur noch als rote Masse aus Haut, Gehirn und Zähnen zu erkennen war. Mit einer ungeheuren Wut und Gewalt musste gnadenlos auf ihn eingeschlagen worden sein. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend und leichtem Schwindel schlug ich den Laptop geradewegs wieder zu.

Fuck.

Ich stand von meinem Schreibtischstuhl auf und lief eine Runde durch mein Zimmer, um mich wieder zu beruhigen. Nachdem ich mir mehrfach mit den Händen über das Gesicht gestrichen hatte, ließ ich mich nach hinten auf mein Bett fallen und starrte unter die Holzdecke. Obwohl ich bereits zwanzig war, lebte ich noch in meinem alten Jugendzimmer. Das Geld, das mein Vater mit seiner Firma verdiente, reichte aus, um unser Haus und unsere beiden Autos zu finanzieren. Für Luxus blieb uns weder Geld noch Zeit und um ehrlich zu sein, fehlte mir auch das Interesse daran. Das, worauf ich wirklich stolz war, war mein großes Bücherregal, welches sich über die gesamte Langseite des Zimmers erstreckte und vollgestopft mit diversen literarischen Werken war. Von Fantasy über Drama bis Sachbuch fand ich hier alles, was mich interessierte oder irgendwann mal interessiert hatte. Besonders liebte ich die Bücher von H.P. Lovecraft, auch, wenn Horror sonst nicht mein Genre war, schaffte er es dennoch mich in seinen Bann zu ziehen. Die Art, wie er schrieb, inspirierte mich unheimlich und war sicherlich einer der Gründe, warum ich selbst Autorin werden wollte.
   "Helena!", riss mich das Gebrüll meines Vaters von unten aus meinen Tagträumen.

   "Ja?", schrie ich zurück.
   "Helena!", er hatte mich offenbar nicht gehört.
   "JA?!"
   "Helena!!!" Augenrollend hievte ich mich aus meinem Bett und riss meine Zimmertüre auf.

   "Was denn??", brüllte ich das Treppenhaus hinab und ihn durch die Sprossen hindurch in der Küchentüre stehen.
   "Schrei doch nicht so!", maßregelte er mich und ich verkniff mir jeden Kommentar über Hörgeräte, "willst du nicht endlich mal was essen? Komm, wir warten!"
   Eigentlich war das ungute Gefühl in meiner Magengegend immer noch nicht zur Gänze verschwunden, doch rückblickend hatte ich seit heute Morgen nichts mehr gegessen und eigentlich ließ ich nie eine Mahlzeit ausfallen. Nie!

   "Was gibt es denn?", fragte ich neugieriger, während ich langsam die knarzende Treppe hinabging. Dass mein alter Herr gekocht hatte, grenzte ohnehin an ein Wunder, denn normalerweise war ich diejenige, die das Essen auf den Tisch stellte und sich um den Haushalt kümmerte.
   "Königsberger Klopse", antwortete mein Vater und ich hob verwundert meine Brauen. "Hast du gekocht?"

   "Nein, Bofrost, aber ich habe aufgewärmt", verkündete er stolz und wir betraten zusammen die kleine Küche, in der mein jüngerer Bruder bereits wartete. Mürrisch hatte er seine Stirn in Falten gelegt und funkelte mich unter seinem schwarz gefärbten Schopf hervor an. Er war sechs Jahre jünger als ich und in der Blüte seiner Pubertät. So wie ich, hatte er die blaugrünen Augen unserer Mutter geerbt, denn Vaters waren braun wie Schokolade.
    "Na, lässt du dich auch endlich mal blicken?", fuhr mich mein Bruder an und ich zerwühlte mit einer Hand kommentarlos seine Frisur, ehe ich mich auf meinen Stammplatz neben ihm niederließ.

   "Warst du wieder bei den Knackis?", fragte er dann, während er sich einen unglaublichen Haufen Essen auf den Teller schaufelte.
   "Jap", antwortete ich knapp, als auch ich mir von der TK-Kreation etwas aufzuscheppen begann. Nachwürzen war nicht nötig, da mein Vater grundsätzlich alles versalzte. Aber trotzdem musste ich zugeben, war es echt lecker.
   "Super gewärmt, Papa", lobte ich ihn, woraufhin er mit einem Grinsen stolz auf seinen eigenen Teller blickte. Nachdem ich einen weiteren großen Bissen heruntergeschluckt hatte, wandte ich mich wieder meinem Bruder zu.
   "Wie läuft es in der Schule? Was hat es bei der Englischarbeit gegeben?"
   "Schule ist wie immer."
   "Und?", hakte ich nochmal nach.

   "Was und?!"
   "Na, die Englischarbeit!"
   "Das geht dich gar nichts an!"
Ich legte mein Besteck auf den Tisch und drehte mich vollkommen zu ihm.

   "Florian! Ich bin deine große Schwester"
   "Ja, aber nicht meine Mutter!", rief er zornig und richtete sich auf, um den Raum zu verlassen.

   "Flo!", ich warf einen hilfesuchenden Blick zu meinem Vater, welcher jedoch nur die Augen schloss und den Kopf schüttelte.

   "Lass ihn einfach. Es ist nicht deine Schuld, Helena", sagte er dann mit leiser Stimme, bevor er mit der Gabel einfach auf seinem Teller herumstocherte. Auch, wenn ich selbst wusste, dass es nicht an mir lag, ging es mir schlagartig schlecht. Zu solchen Situationen kam es immer wieder und wir hatten alle Hände voll zu tun, um unsere kleine Familie zusammenzuhalten. Meistens gelang uns das auch recht gut, aber Rückschläge waren dennoch jedes Mal schwer zu verkraften. Für meinen alten Herrn allerdings noch schwerer, als für mich. Er wirkte um Jahre gealtert, als er den Blick nach unten richtete und die Stirn plötzlich voller Sorgenfalten war. Ich hatte das Gefühl, das sein kurzes, dunkles Haar in der letzten Zeit viele Graue stellen bekommen hatte. Er arbeitete sehr viel, um unser Leben zu finanzieren und die Selbstständigkeit mit seiner Firma verlangte ihn sieben Tage die Woche. Das Vibrieren meines Handys riss mich aus meinen trüben Gedanken. Nanu? Ich zog es aus der Hosentasche und warf einen neugierigen Blick darauf. 

Daniel: Guten Abend, Kleines. Gute Nachrichten. Der Direktor gibt Liam noch eine Chance. Das ist aber die letzte! Sag ihm also, dass er sich benehmen soll. Wann kommst du vorbei?

Ohne, dass ich es beeinflussen konnte, breitete sich ein Grinsen auf meinen Lippen aus und Erleichterung machte sich in mir breit.
   "Na, was grinst du denn so?", fragte mein Vater und musste selbst amüsiert über mich schmunzeln. "Ist es ein Junge?"

   "Schon - aber nicht das, was du denkst. Es geht um die 'Knackis'", antwortete ich und spürte, wie mein Appetit sich wieder regte.

__________

Was wohl mit Helenas Mutter passiert ist? Zum Glück kann sie Liam noch einmal zu einem Gespräch besuchen! Was sie dort über ihn herausfinden wird?

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>> nächstes Kapitel : Wie ein Eichhörnchen im Scheinwerferlicht

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