EXTRA 2: Meine Helena

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Ich stand auf und ging zu Daniel herüber, der erleichtert aussah, vermutlich dankbar dafür, dass ich nun so ungewöhnlich kooperativ war. Dass ich gerade vor dem Interview flüchtete, musste er ja nicht wissen. Daniel legte mir eine Hand auf die Schulter und führte mich zu der Tür, während Helena hinter uns eilig ihre Unterlagen zusammenraffte. Wir verließen den Besucherraum und gingen den Korridor herab zu meiner Zelle. Womit Daniel allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass wir auf dem Weg dorthin erneut Thorsten und seinen Anhängern begegneten. Ich verdrehte die Augen und konnte mir schon denken, was jetzt gleich passieren würde.

„Na Heidi, hattest du deinen Spaß mit der kleinen Fotze?", spuckte mir Thorsten entgegen. Einer seiner Freunde lachte und machte eine obszöne Geste mit seinen Händen. Mein Puls begann zu rasen. Natürlich war es an der Tagesordnung, beleidigt oder angegriffen zu werden und für gewöhnlich machte mir das nichts aus. Aber hier ging es nicht um mich, sondern um ein unschuldiges Mädchen. Eine junge Frau, die genau solchen Idioten wie Thorsten auch noch etwas Gutes abgewinnen wollte. Die sie verstehen wollte. Ich wusste, dass ich ihn einfach ignorieren sollte, aber ich konnte nicht verhindern, dass der Zorn in meinen Fingerspitzen kribbelte.

„Ruhe!", herrschte Daniel die anderen an.

„Ist ja klar, dass die Reichen sich die teuersten Nutten leist..."

Das war zu viel.

Ich würde ihm seine Nase direkt ins Gehirn schlagen.

Wenn nötig mit meiner eigenen Stirn.

Ich schoss vor wie eine Kugel aus dem Gewehr.

„Liam!!!", hörte ich Helena erschrocken rufen.

Wenige Zentimeter vor Thorsten durchfuhr meinen Körper ein Ruck.

Daniel hielt mich an meinen Handschellen fest. Das Metall schnitt sich in meine Handgelenke.

Jeder meiner Muskeln war bis zum Bersten gespannt.

Mit mörderischem Grimm durchbohrte ich seine Augen mit meinen.

Thorstens Gesicht verlor alle Farbe. Er war kleiner als ich. Schwächer. Wären wir unbeobachtet, hätte ich ihn zerlegen können wie ein Spielzeug.

„Wenn wir uns draußen begegnen, wird niemand da sein, um mich aufzuhalten", zischte ich leise. Auch wenn Thorsten sich seinen Respekt nicht anmerken lassen wollte, bemerkte ich, wie sich die Haare an seinen Armen für einen Moment aufstellten. Meine Drohung würde keinen nachhaltigen Effekt haben. Später würde er mit seinen Männern wieder große Töne spucken, aber zumindest hatte ich ihm für diesen Moment das Maul gestopft.

Vielleicht würde er es sich demnächst zwei Mal überlegen, ob er eine unschuldige Person beleidigte oder nicht.

„Beherrsch dich Liam! Bist du verrückt, deine Freilassung wegen soetwas aufs Spiel zu setzen?", blaffte mich Daniel von hinten an, der mich mit aller Kraft wieder zurückzog und mir einen kräftigen Stoß in den Rücken versetzte, sodass ich einige Schritte den Gang entlang stolperte.

Inzwischen waren auch andere Wärter auf uns aufmerksam geworden und eilten herbei, um Thorsten und seinen Harem zu bändigen, die drauf und dran waren, mir nachzusetzen.

Noch immer raste mein Puls und pumpte Adrenalin durch meine Venen. Da war so viel in mir. So viel Wut und Zorn, die einen Weg suchten, an die Oberfläche zu gelangen. Doch ich hatte sie bereits wieder in Ketten gelegt und in die hinterste Ecke meiner Selbst verbannt. Ich würde sie mir aufheben. Für den einen Moment. Den einen Moment, für den ich noch lebte.

Daniel schloss meine Suite auf, wie ich meine Zelle gerne nannte, und ich trat herein. Arme Helena. Hoffentlich brachten die Besuche in dieser JVA ihre rosarote Welt nicht ins Wanken. Sie hatte etwas, das ich längst verloren hatte: Hoffnung.

RETTE MICHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt