Chapter 2

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Langsam öffnete ich meine Augen und sah zum Fenster. Die Sonne war schon oben und mehrere Sonnenstrahlen fielen in mein Zimmer. Heute war Wochenende und ich wurde nicht von meinem nervigen Wecker geweckt. Es fühlte sich wirklich gut an und ich schloss noch mal meine Augen, weil ich noch nicht aufstehen wollte. Am Wochenende stand ich immer so spät wie möglich auf, weil ich die Zeit für mich haben wollte, bevor ich zu den anderen musste. Danach ging ich immer runter zum Frühstücken und dann war ich dran mit Geschirrwaschen. Den ganzen Tag hatte ich frei, bis ich Abends beim Kochen helfen muss. Es war alles immer viel entspannter und ich hatte viel Zeit für mich. Alle anderen im Waisenhaus hielten mich eh für verrückt, also wollten sie nicht so viel mit mir machen.
Na ja, ich dachte dieses Wochenende würde wie jedes andere laufen, aber da hatte ich mich wohl vertan, denn Page kam hektisch in mein Zimmer gelaufen und strahlte mich glücklich an. Erschrocken riss ich meine Augen auf und setzte mich auf. Sie hatte das breiteste Grinsen auf ihrem Gesicht und ihre Augen glänzten vor Aufregung. Ganz plötzlich fing sie an zu kreischen und ich hielt mir meine Ohren zu. Ich fragte mich, was die anderen wohl gerade dachten, wenn sie das kreischen hörten. Fast rechnete ich damit, dass alle gleich hier hoch gelaufen kommen, aber es passierte nichts. Niemand kam hoch und guckte neugierig nach, warum hier so gekreischt wurde. Wussten sie etwa schon, was hier vor ging?
"Was...?"
Page stürmte auf mich zu und schmiss sie auf mein Bett. Sie nahm meine Hand und drückte sie so fest, dass ich dachte, dass sie mir alle Knochen in der Hand brechen würde. Mit einem Ruck wurde ich nach vorne gezogen und sie legte ihre Arme um mich. Erst als ich fast keine Luft mehr bekam ließ sie mich endlich los. Schnell nahm ich tiefe Atemzüge und starrte sie an.
"Was ist passiert?", sprach ich dieses Mal meine Frage ganz aus und sah sie verwirrt an.
"Oh mein Gott! Ich kann es nicht fassen! Es ist unfassbar!", meinte sie aufgeregt, was meine Frage aber immer noch nicht beantwortete.
"Was? Was ist unfassbar?", fragte ich und wurde langsam neugierig. Statt mir aber meine Frage zu beantworten kreischte sie einfach nur. Ich hatte noch nie gesehen, dass Page sie jemals so sehr gefreut hatte. Es musste wirklich etwas großes sein, wenn sie sich so freute.
Vielleicht war John zurück gekommen? Auch wenn es nicht ganz wahrscheinlich war, breitete sich Hoffnung in mir aus und jetzt musste ich unbedingt wissen, was es war.
"Ich freue mich so für dich!", sagte Page und meine Hoffnung schraubte sich etwas runter. Sie freute sich für mich, dass hieß bestimmt nicht, dass John zurück war, aber ich konnte nicht ganz aufhören darauf zu hoffen, dass er es wirklich war.
"Page! Ich verstehe nur Bahnhof", teilte ich ihr mit und hielt sie an beiden Armen fest, damit sie aufhörte auf meinem Bett auf und ab zu springen.
"Keine Zeit für Erklärung, du musst dich jetzt fertig machen." Sie nahm meinen Arm und zog mich aus dem Bett. Ohne auf mich Rücksicht zu geben schleifte sie mich ins Gemeinschaftsbad und schubste mich darein.
"Mache dich fertig, schnell! Ich erwarte dich in 20 Minuten." Danach hörte man nur noch schnelle Schritte, dir durch das ganze Gebäude liefen.
So wie sie es mir gesagt hatte, machte ich mich fertig. Da ich normalerweise immer ziemlich lange im Bad brauchte, verfiel ich ihn Panik. Ich beschloss dann einfach zu duschen und währenddessen meine Zähne zu putzen. So hatte ich schon mal zwei Schritte auf einmal. Als ich fertig war, trocknete ich mich schnell ab und wollte mich anziehen, aber mir viel ein, dass ich nur mein Pyjama hatte und nichts anderes mitgenommen hatte. Plötzlich kam Page ins Bad und ich schaffte es noch rechtzeitig mir mein Handtuch umzuwickeln.
"Ich habe keine Klamotten mitgenommen", sagte ich und deutete auf mein Handtuch.
"Das ist nicht schlimm, ich habe alles für dich im Zimmer zurechtgelegt", meinte Page und zog mich zurück in mein Zimmer.
Vor der Tür blieb ich erstarrt stehen und starrte mein Zimmer an. Mein Zimmer war völlig leer, alle Fotos an meiner Wand, mein Schreibtisch, alles. Die einzigen Sachen, die sich noch in meinem Zimmer befanden waren zwei Koffer, ein großer Karton und ein Sommerkleid mit Unterwäsche auf meinem Bett.
"Was ist hier passiert?", wollten ich wissen und sah Page verständnislos an.
"Das wirst du gleich erfahren! Aber jetzt ziehe dich erst einmal an. Ich komme gleich." Und schon war sie weg. Da ich keine andere Wahl hatte, zog ich die Unterwäsche und das Kleid an. Keine Sekunde zur früh kam Page wieder in mein Zimmer und drückte mich auf meinem Stuhl. Sie holte einen kleinen Koffer hervor und ich erkannte, dass es ihr Schminkkoffer war.
"Page, ich will jetzt wirklich wissen, was hier los ist", forderte ich und lehnte mich zurück, als sie mich schminken wollte.
"Na schön", gab sie schließlich nach und seufzte, grinste aber dabei. "Heute morgen hat ein Mann angerufen und gesagt, dass er dich aufnehmen möchte!" Wieder kreischte sie und mein Mund klappte auf.
"Was?", fragte ich ungläubig. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte oder nicht. Nach all den Jahren, die ich hier verbracht hatte, konnte ich endlich weg von hier. Ich konnte etwas neues anfangen, aber hier waren auch all meine Erinnerungen, außerdem wäre ich in ein Jahr eh entlassen worden.
"Ja! Er möchte sich heute mit dir unterhalten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er dich aufnehmen wird. Außerdem kommt er noch aus einer reichen Familie. Ist das nicht fantastisch?!" Glücklich tanzte sie durch Zimmer und ich wusste immer noch nicht, was ich davon halten sollte.
Schon öfters hatte ich mir ausgemalt, wie es wohl sein würde, wenn ich in eine Familie kam, aber dass das jetzt wirklich passieren würde... damit hatte ich nicht gerechnet. Wenn ich mir Page so anschaute, konnte ich nicht anders, als mich auch zu freuen. Aber wenn ich von hier weg ging hieß es auch, dass ich von Page weg müsste. Sie war immer für mich da gewesen und jetzt zu wissen, dass sie es von nun an nicht mehr sein würde, schraubte meine Freude etwas runter. Ich bin mir sicher, dass ich sie vermissen werde.
"Okay, jetzt genug gefreut", sagte Page eher zu sich selbst an zu mir. "Jetzt müssen wir dich erst mal fertig machen." Sie packte ihren Schminkkoffer aus und fing an mich leicht zu schminken. Normalerweise schminkte ich mich nicht, weil ich dazu viel zu faul war und das Gefühl nicht mochte, wenn etwas auf meiner Haut lag, aber für den heutigen Tag müsste ich es aushalten. Immerhin war es ein ganz besonderer Tag.
Page wusste, dass ich Schminke nicht all zu sehr mochte und versuchte deshalb auch mein Make-Up dezent zu halten. Es dauerte auch nicht lange und wir waren fertig. Danach föhnte sie mir meine langen roten Haare und wellte sie leicht. Als sie fertig war, betrachtete sie mich zufrieden und schob mich rüber zum Spiegel.
Ich war wirklich fasziniert, was sie mit mir gemacht hatte. Meine Haut sah ebenmäßig aus und meine Augen kamen zum Vorschein. Erst da viel mir auf, dass ich keine Kontaktlinsen trug. Schnell ging ich zu meinen Koffern und machte sie auf, um nach meinen Kontaktlinsen zu suchen, die Page anscheinend sehr gut weggepackt hatte.
"Alice, was machst du da? Ich habe alles sauber und ordentlich für dich verpackt und jetzt ist alle unordentlich!", schimpfte Page.
"Ich suche meine Kontaktlinsen. Wo hast du sie hingepackt?", fragte ich sie und durchwühlte weiterhin alles.
"Warum brauchst du deine Kontaktlinsen? Du kannst das nicht ewig verstecken. Außerdem sind deine Augen wunderschön", meinte Page.
"Ja, wunderschön, aber auffällig und abnormal", fügte ich hinzu.
Sie seufzte. "Lass mich mal dran." Ich trat zur Seite und Page kramte kurz in meinem Koffer, bis sie meine Kontaktlinsen in der Hand hatte.
"Danke." Schnell machte ich mir sie rein und betrachtete mich im Spiegel, so war es richtig.
"Komm, er müsste gleich kommen", sagte Page und schob mich aus dem Zimmer. Auf dem Weg nach unten trafen wir auf viele andere Kinder, die mich neugierig mustern. Sie führte mich zum Besprechungsraum und ich wurde mit jeder Sekunde nervöser, was dazu führte, dass ich öfters mit meiner Hand durch die Haare fuhr und eine Strähne zwischen meinen Fingern zwirbelte.
"Hör auf damit, du zerstörst noch deine Haare." Page sah mich streng an, aber ich bemerkte, wie sie mit ihren T-Shirt spielte, was sie immer machte wenn sie nervös war.
Kurz bevor wir den Raum betraten blieben wir kurz stehen und atmeten tief ein. Mit zitternder Hand öffnete Page die Tür und wir betraten den Raum. Das Zimmer war gemütlich eingerichtet, damit man sich in einer entspannten Atmosphäre unterhalten und kennenlernen konnte. Es hatte weiße Wände mit großen Fenstern und daneben viele Pflanzen. In der Mitte waren zwei Sofas und ein Couchtisch und auf einen der Sofas saß ein etwas älterer Mann im schwarzen Anzug. Seine schwarzen Haare waren ordentlich gekämmt und seine braunen Augen waren warm und strahlten Ruhe aus.
Als er uns erblickte stand er lächelnd auf und schüttelte Page die Hand.
"Schön, dass Sie heute gekommen sind", sagte Page und wir setzten uns gegenüber vom Mann.
"Ich möchte mich noch einmal dabei bedanken, dass Sie es noch so kurzfristig hinbekommen haben", meinte der Mann.
Jetzt richtete sich Page zu mir. "Also Alice, das ist Nicolas Greer und Mr. Greer, das ist Alice Irons."
"Es freut mich Sie kennen zu lernen." Ich lächelte ihn etwas nervös an und hielt ihm die Hand hin.
"Ganz meiner seist." Wir schüttelten die Hände und ich bemerkte, dass er keinen festen Händedruck hatte. Wenn ich mir ihn so ansah, würde ich denken, dass er ein Geschäftsmann wäre. Seine Kleidung, seine Haare, seine Körperhalten. Es erinnerte mich alles an einen Geschäftsführer, aber sein Händedruck passte da nicht rein.
"Also, ich lasse euch mal alleine, damit ihr euch unterhalten könnt." Page zwinkerte mir noch ein letztes Mal zu und verließ den Raum.
Nervös sah ich Mr. Greer an und wusste nicht genau, was ich sagen sollte.
Mr. Greer lächelte mich warm an. "Du musst nicht nervös sein. Ich werde dir nichts tun."
Ich lachte leise. "Das habe ich auch nicht gedacht."
"Wie wärst, wenn wir mit etwas einfachem Anfangen. Wie wärst mit: Was machst du gerne in deiner Freizeit?"
"Ich lese gerne und höre gerne Musik", antwortete ich.
"Und wie findest du die Schule? Bist du gut darin?", fragte er weiter.
"Ich würde nicht sagen, dass ich gut in der Schule bin. Es gibt Fächer, in denen ich einigermaßen gut bin und es gibt einige Fächer, in denen ich nicht so gut bin." Eher grottenschlecht, aber das konnte ich natürlich nicht sagen. Er würde es aber früh genug rausbekommen, wenn er mich aufnimmt.
Plötzlich fragte ich mich, warum ich diejenige bin, die er aufnehmen wollte. Vielleicht war es auch nur ein Zufall gewesen, aber ich wollte es wissen.
"Du siehst aus, als hättest du eine Frage", meinte Mr. Greer.
"Ja, eh wissen Sie..."
"Du kannst mich duzten", unterbrach er mich.
"Ja, äh, ich habe mich gefragt, warum du mich ausgesucht hast? Also nur wenn du es dir aussuchen konntest", fügte ich schnell hinzu.
"Na ja, ich war auf der Internetseite eures Waisenhauses. Ich habe mir dann eure Fotos angesehen und als ich dich gesehen habe, habe ich mir gefragt, warum trägt dieses Mädchen Kontaktlinsen?", beantwortete er meine Frage.
"Nur deswegen?", hakte ich nach.
"Ja, nur deswegen. Wenn es dir nichts ausmacht, würdest du mir deine Augen zeigen? Ohne Kontaktlinsen?"
Ich erstarrte und war kurz davor nein zu sagen, aber Page hatte recht. Irgendwann würde er mich ohne Kontaktlinsen sehen, wenn er mich bei ihm aufnahm.
"Wenn du nicht willst musst du es nicht", fügte er schnell hinzu, da er wohl bemerkt hatte, dass ich mich leicht weigerte.
"Nein, es ist schon okay..., aber erschrecke dich nicht", warnte ich Nicolas vor. Ich sah ihn noch kurz unsicher an und überlegte, ob ich es wirklich tun sollte und drehte mich danach von ihm weg. Vorsichtig nahm ich eine Kontaktlinse nach der anderen raus und drehte mich zögernd um. Kurz bevor er meine Augen sehen konnte, schloss ich meine Augen. Erst als ich wieder mir dem Gesicht zu ihm saß öffnete ich langsam meine Augen.
Ich sah ihn an und erwartete, dass er irgendeine Reaktion zeigen würde wie zum Beispiel starren, Augen aufreißen oder irgendetwas, aber er zeige gar nichts, überhaupt nichts. Das einzige, dass sich veränderte war, dass er mich jetzt noch breiter anlächelte.
"Bist du nicht überrascht?", fragte ich vorsichtig nach.
"Nein", antwortete Nicolas ruhig.
"Nein?", hakte ich nach und sah ihn verständnislos an. Wie konnte man nicht überrascht sein? Meine Augen waren nicht normal!
"Nein, denn es gibt einiges, was du über dich wissen musst."

SoullessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt