Für einen einzigen Moment vergaß ich einfach.

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Meine Augen huschten umher. Ich probierte alles auf einmal zu sehen, aber es gelang mir einfach nicht. Da war ein Mädchen mit blonden Haaren, nein, eine ganze Gruppe von Mädchen. Sie redeten. Dann waren da noch mehrere Jungs. Auch sie redeten. Dann lachten sie. Frustriert stieß ich den abgehaltenen Atem aus.

Warum konnte ich sie nicht alle auf einmal sehen? Ich verstand nicht einmal was sie redeten. Ich kniff die Augen fest zusammen und strengte meine Ohren an. *Hört hin, hört hin, hört hin!* Dachte ich angestrengt und konzentrierte erstmal meine Sinne auf die Jungs.

"Hey, wie wär's? Heute ins Schwimmbad zu gehen?" Fragte eine tiefe Stimme und eine andere antwortete. "Ne, lass mal, ich treff mich heute mit Galina." Lachen ertönte. "Ganz die treue Socke. Wie immer lässt du uns sitzen für dein Mädchen." Noch jemand anderes. Seine Stimme sollte wahrscheinlich amüsiert klingen, aber man hörte deutlich heraus, dass der Sprecher beleidigt war.

"Ach komm, Cooper, kein Grund eifersüchtig zu werden." Erklang erneut die Stimme von dem Jungen der sich heute mit Galina traf. Ich kannte ihn. Er hieß Quentin Coles und galt als einer der hübschesten Jungs seiner Jahrgangsstufe. Zur Enttäuschung aller oberflächlichen Mädchen war er vergeben.

"Du! Was machst du da?" Keifte mich plötzlich eine ziemlich hohe weibliche Stimme an und ich schreckte zusammen. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und starrte dem blonden Mädchen von vorhin in die Augen.

"Ich sitze." Erklärte ich sarkastisch und das Mädchen schnaubte. Ich hätte mich selbst schlagen können. Warum hatte ich nicht aufgepasst? Ich wollte doch ALLES sehen und hören, aber schon wieder hatte ich mich nur auf eine Sache konzentriert und dabei verpasst wie die Mädchengruppe an meinen Tisch kam.

"Hör mal, Scales, dass ist unser Tisch wo du gerade sitzt." Überrascht blinzelte ich. Sie wusste meinen Namen? "Woher kennst du mich?" Sprach ich meinen Gedanken aus. Eine Brünette hinter der Blonden kicherte hinter vorgehaltener Hand verhalten.

"Dich nicht, aber deinen Bruder." Erklärte die Blonde und warf ihre Haare nach hinten. "Er sieht nicht schlecht aus, nicht wahr Emphie?" Ergänzte die Brünette und begann von neuem zu kichern. Ich verdrehte die Augen und überraschenderweise schien auch Emphie, das blonde Mädchen, etwas genervt von der Kichererbse, von der ich wusste, dass sie Laura hieß.

"Jetzt steh auf und verzieh dich." Keifte mich plötzlich eine weitere Blondine an. Sie sah nicht halb so perfekt aus wie Emphie. Ihre Nase war viel zu lang für ihr Gesicht und mindestens ein halbes Dutzend Pickel ließen ihr Gesicht etwas aufgequollen wirken.

Emphie begann zu lachen und natürlich schloss sich ihre Gruppe ihr an. Das Ganze endete damit, dass Emphie wieder aufhörte und die anderen sofort wieder ernste Mienen aufsetzten. Alle außer Mrs. Kichererbse natürlich. "Wie kann man einem einzigen Mädchen nur so ergeben sein?" Murmelte ich, aber die Kichererbse schien mich gehört zu haben.

"Was fällt dir ein?" Kreischte sie und stürzte sich auf mich. Verwirrt wehrte ich ihre spitzen Krallen ab, die anscheinend Nägel sein sollten, und fiel mitsamt meinem Stuhl mach hinten um. Ich verzog mein Gesicht ein wenig vor Schmerz.

"Halt deine Gefolgsleute unter Kontrolle, Kreideberger." Knurrte ich und Emphie zog eine Augenbraue hoch. Sie betrachtete mich wie einen stinkenden Käfer, dann schnappte sie sich den Stuhl der kurz hinter mir lag und setzte sich an den Tisch.

Laura kicherte wieder mal und setzte sich auf den Stuhl daneben. Die anderen aus der Gruppe taten es ihr gleich. Ich stöhnte als ich mich aufrappelte. Mein Rücken und mein Steißbein schmerzten, aber ich wusste, dass ich heute Nachmittag eh noch mehr aushalten würde müssen.

Sorgfältig schob ich mein T-Shirt zurecht, damit man den großen blauen Fleck auf meinem Bauch nicht sah. Stolz richtete ich mich nun komplett auf und stolzierte an der Mädchengruppe vorbei.

*Ich bin besser als diese Mädchen. In vielen Dingen.* Dachte ich wütend. *Die werden schließlich nicht zum Auftragsmörder ausgebildet. Die machen nicht jeden Nachmittag Kampftraining. Die ertragen nicht die ganzen Schmerzen.* Ich hob mein Kinn ein Stück weiter nach oben. Völlig in Gedanken rannte ich gegen jemanden.

"Verdammt!" Murmelte ich. Ich hatte schon wieder nicht aufgepasst, obwohl das doch genau für heute die Aufgabe war, die mir Erik gestellt hatte. Aufpassen! Nimm alles in dich auf. Jede winzige Kleinigkeit. Ob es nun der Pickel auf dem Kinn eines Mädchens ist oder ob es der abstehende Faden an einem Schulrucksack ist. Nimm alles auf.

Das hatte mir Erik eindringlich ins Ohr geflüstert und jetzt übersah ich nicht nur einen Pickel, sondern gleich einen ganzen Menschen. Ich hatte das starke Bedürfnis mir gegen die Stirn zu schlagen. Dann realisierte ich endlich mit wem ich da zusammengeprallt war. "Kai..." Keuchte ich.

Ich sah deutlich das Papier vor mir, dass mir mein Ausbilder Erik vorgelegt hatte. Auf ihm waren alle Informationen über die Schüler der 7.Klasse, der 8. Klasse, in der ich mich gerade befand, und der 9. Klasse. Ich musste alles auswendig lernen um zu beweisen wie schnell ich mir etwas merken konnte.

Ich wusste ich konnte nicht jeden Namen, jede Haar- und Augenfarbe, jedes Alter, jedes Hobby und jeden Klassenlehrer jedes Schülern auswendig, aber bei dem Jungen vor mir brauchte ich nicht das Blatt Papier um das zu wissen. Schon seit ein paar Jahren wusste ich genau über ihn Bescheid.

Kai Rempe, Blond, graue Augen, 15, spielt gerne Handball,, liest aber lieber, sein Vater ist Zahnarzt und seine Mutter arbeitet als Verkäuferin in einem Supermarkt, er hat zwei beste Freunde namens James und Greta. Seine feste Freundin heißt Luisa Schlachter.

Ich starrte in sein Gesicht und probierte das aufkommende Herzflattern zu unterdrücken. Innerlich hoffte ich auf ein Wunder. Ein Wunder wie in den ganzen Liebesfilmen. Vielleicht würde er mich jetzt an sich drücken und mich küssen obwohl er mich kaum kannte. Vielleicht würde er mir hier und jetzt gestehen, dass er für immer mit mir zusammen bleiben wolle und dabei würden seine grauen Augen glänzten, als wären sie Diamanten.

Nichts davon passierte. Er sah mich nur kurz an, sein Mund verzog sich, dann marschierte er weiter zu seinem nächsten Klassenraum. "Sorry." Murmelte ich, aber ich glaubte nicht, dass er mich noch hörte.

Noch immer klopfte mein Herz wie wild während ich weiter lief in Richtung Toilette. Ich stieß grob die Tür auf und jemand dahinter jaulte auf. Eine kleine rotblonde 6. Klässlerin stürmte an mir vorbei und hielt sich dabei die Nase. Unter ihrer Hand floss eine rote Flüssigkeit hervor.

Ich rümpfte die eigene Nase und stellte mich vor's Waschbecken. Der Spiegel der darüber hing war zerbrochen und nur noch der untere linke Teil war nicht von Rissen übersäht. Das grelle Licht beleuchtete mein Gesicht und ließ mich unnatürlich gelb aussehen.

Ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und betrachtete mich. Straßenköterblond. So nannte es meine Mutter immer liebevoll, dann wuschelte sie durch meine langen Haare und lachte. Ich kniff meine Augen zusammen und probierte eine Ähnlichkeit zwischen meiner Mutter und mir zu finden, aber ich sah ihr überhaupt nicht ähnlich.

Sie hatte kurze braune Haare mit ein paar grauen Strähnen, ich hatte lange straßenköterblonde Haare. Sie hatte braune Augen, ich blaue. Sie war klein und eher moppelig, ich war groß und richtig dürr. Ihre Nase war ein wenig zu groß für ihr rundes Gesicht, ich hatte eine kleine Stupsnase in einem eher eckigen Gesicht.

Ich griff mir in die Haare und hielt die Spitzen nach oben. Wie ich wohl mit kurzen Haaren aussah? Vielleicht gar nicht so schlecht. Ja, ich glaube, das würde mir stehen. Dachte ich und grinste in das verzerrte Spiegelbild. Veränderung standen an und ich würde sie zulassen.

Ich würde es einfach auf mich zukommen lassen und mitschwimmen. Ich würde ein Auftragsmörder werden. Mit kurzen Haaren.

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Mal ein etwas anderes Kapitel :)
Zur Info: Zu diesem Zeitpunkt träumt Bella und erlebt eine Erinnerung von ihr nochmal.
In diesem Traum ist Klein-Bella in der 8. Klasse, 13 Jahre alt und am Anfang ihrer Ausbildung zum Auftragskiller. Sie ist nicht gerade glücklich mit der Berufswahl, aber an diesem Tag akzeptiert sie sie.

50 Tage 50 MenschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt