XXV

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Leichter Nieselregen sprühte auf unsere kleine Gruppe hinunter, die sich an diesem verregnetem Samstagvormittag zwischen den Gräbern hindurch ihren Weg zur Kirche bahnten. Seit Sam's Tod waren bereits vier Wochen vergangen. Vier Wochen, in denen das Internat langsam aber sicher zur Normalität zurückkehrte. So auch ich. Ich träumte zwar immer noch schlecht und hatte Probleme mit dem Einschlafen, doch im Großen und Ganzen hatte ich die Sache verarbeitet. Zumindest wollte ich das glauben.

Allerdings hatte ich seit dem verhängnisvollen Tag die Bibliothek nicht mehr betreten und wollte nur ungern alleine zu sein. Der Gedanke, dass ein Mörder auf der Arcalia herumlief, machte mir Angst. Hinter jeder Ecke vermutete ich einen Verrückten mit Messer und ich hatte wieder die Angewohnheit entwickelt, mit dem Rücken an die Wand gepresst zu schlafen, was ich früher schon gemacht hatte. Ich schüttelte mich, um die negativen Gedanken loszuwerden, die mir durch den Kopf schossen und erntete einen verständnisvollen Blick von Amy.

Wir beide waren die einzigen Schüler des Internats, die zu Sam's Beerdigung erschienen waren. Der Rest der Gäste waren Familie und Bekannte.
,,Ziemlich traurig, dass nur so wenige Schüler da sind, oder?" Bemerkte ich und Amy nickte.
,,Wenn man bedenkt, was direkt nach ihrem Tod los war. Und jetzt interessiert sich schon wieder niemand für sie."
Ich nickte und ließ meinen Blick umherschweifen, während wir auf den Pfarrer warteten und blieb an einem Ehepaar hängen. Es waren Sam's Eltern Kathy und Brandon, ich kannte sie, da sie nach Sam's Tod des Öfteren ins Internat gekommen waren.

Kathy weinte herzzerreißend und klammerte sich an ihrem Mann fest, dem selber die Tränen aus den Augen liefen. Kein Wunder, sie hatten ihre Tochter verloren. Ich fand, das war das schlimmste, was passieren konnte. Wenn Großeltern starben oder sogar Eltern, war das zwar auch total traurig, doch am schlimmsten war es, die eigenen Kinder zu Grabe zu tragen. In diesem Moment erschien endlich der Pfarrer und öffnete die Flügeltüren der Kirche.

Unsere kleine Gruppe trat vorsichtig ein und verteilte sich auf die Sitzreihen, ich und Amy nahmen in der letzten belegten Reihe Platz. In der ersten saßen Kathy und Brandon sowie einige andere enge Verwandte, die ich jedoch nicht kannte.

Ein trauriges Lied erklang und plötzlich begannen alle zu singen. Ich griff nach dem Liederblatt und drehte es hektisch hin und her, bis ich das richtige Lied gefunden hatte. Leise stimmte ich mit ein und verdrängte den Gedanken daran, dass ich absolut nicht singen konnte. Nach den letzten Takten hörte man kurzes Geraschel und bedächtige Schritte, als der Pfarrer nach vorne ging.

,,Wir sind heute hier zusammengekommen, um uns von Samantha Adams zu verabschieden." Er ließ eine Pause, bevor er fortfuhr. ,,Sie war nicht nur ein einfaches Mädchen, nein, sie war Tochter, Enkelkind, Nichte und Freundin. Am dreizehnten September ist sie - leider viel zu früh - von uns gegangen."
Man hörte gedämpftes Schluchzen und ich musste nicht lange suchen wer es war. Kathy hatte das Gesicht in den Händen vergraben und Brandon legte ihr behutsam einen Arm um die Schultern.

,,Wir hören nun die Trauerrede." Der Pfarrer kramte in seinen Unterlagen und zog einige Zettel hervor.
,,Samantha Adams war kein langes Leben vergönnt. Sie wurde..."
Es folgte eine unglaublich lange und unglaublich langweilige Rede, die eigentlich nur Sam's Leben erzählte. Zuerst hörte ich noch zu, doch an dem Punkt, an dem von irgendeinem Unfall berichtet wurde, schaltete ich ganz bewusst ab. Ich fand, dass es mich eigentlich nichts anging, was Sam erlebt hatte. Wenn sie es mir nicht erzählt hatte, wollte ich nicht nach ihrem Tod heimlich alles erfahren. Erst, als der Pfarrer zum Ende kam, konzentrierte ich mich wieder.

,,Nun werden noch einige Angehörige sprechen." Er verließ seinen Platz und man hörte ein leises Hüsteln irgendwo vorne, bis plötzlich eine ältere Frau aufstand und nach vorne trippelte.
,,Sam war mein Enkelkind." Begann sie mit brüchiger Stimme. ,,Es gibt da eine Geschichte, gar nicht so lange her, vielleicht anderthalb Monate oder so."
Sie räusperte sich und schielte kurz zu Kathy, dann fuhr sie fort.

,,Sam hat mich angerufen. 'Oma' hat sie gesagt, 'Oma, ich habe jemanden kennengelernt'. Und ich dachte, 'Toll, meine Kleine lernt einen Jungen kennen'. Ich habe mir ausgemalt, ihn kennenzulernen, ihn kritisch zu beäugen und ja, auch, Uroma zu werden." Sie machte erneut eine Pause.
,,Und dann sagte Sam: 'Sie...'. Ich habe gedacht, Sam wäre lesbisch." Sie lachte freudlos und fügte an:
,,Nicht, dass das schlimm gewesen wäre, ich bin offen für alles. Aber dann sagte Sam: 'Sie ist meine absolut beste Freundin. Ich habe zum ersten Mal eine richtige, echte beste Freundin. Und sie heißt Faye.'"

Ich sah erschrocken auf. Das hatte Sam über mich gesagt? Oh Gott, sie musste mich echt gemocht haben. Und ich dumme Kuh hatte immer über sie gelacht. In diesem Moment nahm ich mir etwas vor. Sam's Mörder sollte nicht davon kommen, und wenn es mich alles kosten würde. Das war ich ihr schuldig.

Amy sah mich ebenfalls komisch an und flüsterte:
,,Ich fühle mich gerade sowas von schuldig."
,,Was soll ich da erst sagen?" Wisperte ich zurück. Nachdem auch noch eine entfernte Cousine von Sam etwas erzählt hatte, erhob sich der Pfarrer und leitete die Gruppe nach draußen, er selbst nahm die Urne mit Sam's Asche und schritt voran. Wir gelangen an eine relativ kleine Grube, die jemand an einer noch freien Stelle ausgehoben hatte und der Pfarrer setzte die Urne hinein.

Nach und nach traten nun die Angehörigen vor, schippten mit einer kleinen Schaufel etwas Erde auf das Grab und legten eine Rose daneben. Einige blieben noch etwas länger vor dem Grab stehen und schienen im Stillen für Sam zu beten.ich war als eine der letzten an der Reihe. Schüchtern machte ich zwei Schritte nach vorne, hob das Schäufelchen hoch und schüttete etwas Erde auf den schon beachtlichen Haufen auf und neben der Urne. Dann legte ich die Rose daneben und verharrte einen Augenblick.

In meinem Kopf herrschte gähnende Leere. Ich hatte keine Ahnung, was man zu einer Toten sagte, was man ihr auf den weg mitgab. Genau genommen konnte sie mich eh nicht hören, ich war noch nie gläubig gewesen. Ein einziger Satz kam mir in den Sinn. Ein ziemlich derber und auch etwas sarkastischer, aber es war immerhin ein Abschiedssatz.
Viel Spaß.
Murmelte ich in Gedanken und trat zurück. Nachdem auch die letzten Trauergäste vorgetreten waren, ging es ab zum Leichenschmaus.

Ich fand es ziemlich pietätlos, direkt nach der Beerdigung, auf der so viele Tränen geflossen waren, gemeinsam zu feiern und sich satt zu essen. Amy und ich fuhren deswegen gleich zurück ins Internat, wo ich mich mehr oder weniger mitgenommen in unserem Zimmer verschanzte. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich schon lange nicht mehr mit meinen Eltern telefoniert hatte. Klar, direkt nach dem Vorfall hatte ich praktisch dauernd am Telefon gehangen und mich bei meiner Mutter ausgeweint, doch jetzt hatte ich schon seit anderthalb Wochen nicht mehr mit ihnen gesprochen.

,,Hi Mom." Meldete ich mich und hörte meine Mutter förmlich lächeln.
,,Wie geht's dir?" Wollte sie wissen und ich antwortete:
,,Nicht so gut, heute war ja die Beerdigung."
,,Oh, das tut mir Leid." Mom klang bestürzt. ,,Ich habe es vergessen. Entschuldigung, ich hätte wohl nicht fragen sollen."

,,Alles gut." Ich kuschelte mich tief in meine Bettdecke und drückte mir das Telefon wie eine Wärmflasche ans Ohr. Wir telefonierten noch eine gute halbe Stunde, bis Trish drohte, mir das Handy wegzunehmen, wenn ich sie noch länger vom schlafen abhalten würde. An diesem Abend schlief ich zum ersten Mal ohne Albräume ein. Vielleicht, weil Sam jetzt endlich ihre Ruhe gefunden hatte.

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(1250)
Dieses Kapitel zu schrieben ist mir voll schwergefallen. Ich war bisher nur einmal auf einer Beerdigung und habe mich dann daran und an einer Dokumentation orientiert. Sagt mir, wenn grobe Fehler dabei sind.

🖤MissWriter13

FeuerseeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt