Ewigkeiten [Levitation]

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Leises Poltern über sich hatte Felix aufgeschreckt. Er saß am Küchentisch, schon länger. Schon die ganze Nacht. Eine Ewigkeit. Und jezz, um 3 Uhr morgens, störte jemand die nächtliche Stille. Das wird seinen konservativen Nachbarn gar nicht gefallen, die bei jedem noch so kleinen Vorfall sofort den Vermieter benachrichtigten. Er musste den unvorsichtigen nächtlichen Besucher warnen, mit seinem Vermieter war nicht gut Kirschen essen.
Er erhob sich langsam, das Poltern dauerte an, war näher gekommen. Es hallte in seinem Kopf, ihm fiel ein Rhythmus auf. Er ging mit nackten Füßen über die kalten, glatten Fliesen, immer in diesem Rhythmus, zog sich im Vorbeigehen noch schnell ein T-Shirt über. Es war zwar mitten in der Nacht, doch trotzdem wollte er dem Fremden nicht nur mit Boxershorts begegnen. Das Poltern hatte sein Stockwerk erreicht, der Takt hielt an, seit Ewigkeiten.
Dann legte er die Hand auf die kühle Klinke, zögerte noch kurz: Ging es ihn überhaupt etwas an? Doch jezz war es zu spät, die Klinke war gedrückt, die Tür öffnete sich, mehr und immer mehr, und gab den Blick auf eine große Gestalt frei, die sich so geräuschvoll die Treppen hinab bewegte.
Das Mondlicht fiel durch ein milchiges Fenster des Flures und erhellte das Gesicht der Gestalt, und Felix traute seinen Augen nicht.
Ein Film spielte sich vor seinen Augen ab, innerhalb von Sekunden, ein Film, der sich vor Ewigkeiten ereignete.
Dieser Mann, zusammen mit Felix selbst. Sie sehen jünger aus, glücklicher. Wie sie morgens nebeneinander aufgewacht sind, wie sie durch einen Park schlendern, händchenhaltend, sich küssend und verliebt anlächelnd, sie im Café, bei Musik machen, beim Filmen, sie mit ihren Freunden, sie wirken alle so glücklich, so glücklich...
Dann veränderte sich die Stimmung des Films. In Felix' Erinnerung wurde alles düsterer, dunkler. Der Mann kam nach Hause, viel zu spät, nicht einmal, nicht dreimal, viele Male. Felix machte sich Sorgen. Er wartete jede Nacht Ewigkeiten auf ihn. Er fragte ihn immer wieder, was los sei. Doch der Mann verschloss sich. Irgendwann kam es raus: Er hatte Felix betrogen, nicht einmal, nicht dreimal. Sondern viele Male. Unzählige Male. Felix fragte nur ein Wort: "Wieso?" Und der Mann antwortete nicht, packte nur seine Sachen und verschwand.
Er kannte diesen Mann. Kannte ihn schon ewig. Dies war kein Fremder. Es war sein Ex-Freund. Es war...
"Jako"
Unglaublich, wie er nach so einem Wechselbad der Gefühle diesen Namen so ruhig aussprach. Vielleicht hatte er es geahnt. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der selbst betrunken aus allem eine Melodie macht. Sogar aus dem Heruntergehen der Treppe.
Obwohl Jako selbst so viel Krach machte, erreichten ihn die Schallwellen dessen, was Felix so leise ausgesprochen hatte, und erschütterten ihn in Mark und Bein.
Er war an ihm gegangen, als Felix für Sekunden paralysiert war, von seinen Erinnerungen überrollt, er hatte ihn gar nicht gesehen.
Doch nun war sein Rücken kerzengrade, wachsam, überrascht.
Er strich sich die langen Haare aus dem Gesicht.
"F-Felix...?"
Langsam drehte er sich um, die Haare fielen ihm zurück ins Gesicht, wirr.
Sie waren wieder braun, registrierte Felix. Vor Ewigkeiten hatten sie sich beide einmal die Haare blond gefärbt, für das Ding, was sie damals gemacht haben. Ihr Ding.
Die Musik.
"Felix" Diesmal keine Frage. Eine Feststellung. Ewigkeiten sagte keiner etwas.
Doch Jakos Gehirn, umnebelt von Alkoholdämpfen, stellte die vielleicht dämlichste Frage, die es hätte stellen können, und ehe er es sich versah, hatte er sie auch schon ausgesprochen.
"Was machst du hier?"
Felix grinste anhand des Offensichtlichen, doch in seinem Grinsen lag etwas Bitteres, etwas, das von langem Schmerz zeugte.
"Ich wohne hier, Jako"
"Oh..."
Wieder sagte niemand ein Wort. Jako schwankte leicht.
"Und was tust du hier?", durchbrach diesmal wieder Felix die ewige Stille.
"Ich... Ich habe jemanden besucht..."
Erst jezz fiel Felix auf, dass Jako sein T-Shirt falsch herum trug und seine Schuhe in der Hand hatte. Ah, daher auch die verstrubbelten Haare... 'Besuch', jezz wird ihm alles klar...
Nach weiteren Ewigkeiten des Schweigens räusperte sich Jako.
"Ich... Ich sollte gehen, meine Bahn, ich darf sie nicht..."
Den Rest des Satzes sprach er nicht aus, er sah Felix an, dass dieser verstand. Sie hatten sich früher immer ohne Worte verstanden.
Offensichtlich gab es Dinge für die Ewigkeit.
"Sei nicht so laut, die Nachbarn... sie mögen keinen Lärm"
Jako nickte stumm.
Er sah Jako nicht hinterher, wie dieser die Treppe hinabstolperte. Sah nicht, dass er sich mehrmals am Geländer festhalten musste, so betrunken war er. Sah nicht, dass ihm seine Schuhe die Treppe hinunterfielen und er sie erst ein Stockwerk tiefer wieder aufheben konnte. Sah nicht, dass ihm die Haare ins Gesicht fielen und dort blieben, seine Tränen versteckten.
Er sah seine Tränen nicht.
Denn seine Sicht war selbst verschwommen von Tränen. Mühsam tastete er sich in seine Wohnung zurück, an seinen Küchentisch. Der Stuhl war noch warm, doch es kam ihm vor, als hätte diese Begegnung im Treppenhaus eine Ewigkeit gedauert.
Er blickte aus dem Fenster. Der Mond ließ sein Licht auf den Bürgersteig fallen. Es waren kaum Menschen unterwegs.
Nach Ewigkeiten tauchte Jako unten auf. Unsicheren Schritten trat er auf den Bürgersteig. Und langsam, ganz langsam, setzte er einen Fuß vor den anderen.
Ich bleibe hier sitzen, dachte sich Felix. Und sehe ihm dabei zu, wie er langsam aus meinem Leben verschwindet. Endlich, nach Ewigkeiten.

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