Die Fliege [Risen To A Flood]

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Du Wand. Du weiße, weiße Wand.


Die Arme hinter meinem Kopf verschränkt liege ich hier, starre dich einfach nur an.
Und du antwortest nicht.


Das kleine Sichtfenster klappt auf.
Ein Auge, ein kaltes, blaues Auge.

"120, stehen Sie auf!"

Dazu: Lautes Klopfen an meine Zellentür.

120.
Mein Name.
Niemand nennt mich hier Max.

Oder Frodo.

"120! Aufstehen, das ist ein Befehl!"

Ein Befehl, dem ich folge.


Weiße Wand.
Kleiner Tisch.
Halbvolles Glas.

"Das Glas ist halbvoll"
"Aber es ist doch halbleer!"
"Nein, wir haben es halbvoll gemacht. Wäre es voll gewesen und du hättest die Hälfte getrunken, dann wäre es halbleer"
"Der Inhalt eines Glases richtet sich also nach seiner Vergangenheit?"
"Genau"

Du warst immer so herrlich philosophisch, wenn du gekifft hattest.
Die Rauchschwaden, die um deinen Kopf zogen.
Ich werde nie vergessen, wie deine braunen Augen blitzten, egal zu welcher Tageszeit.


Eine Fliege zieht ihre Runden durch den Raum. Selbst sie scheint verrückt zu werden in dieser weißen Folter.

Weiße Wand.
Verrückte Fliege.

Sie ist in die Zelle gehuscht, als der Soldat die Luke geöffnet hatte, um mir mein Essen zu bringen.

Verrückte Fliege.
Man fliegt doch nicht einfach in fremde Zellen.
Dumme Fliege.

Das Summen macht mich selbst ganz verrückt.

"Fliegen müsste man können"
"Fliegen können nur die Kriegsflugzeuge. Und die Reichen. Und die auf der anderen Seite. Wir werden niemals fliegen können"
"Das Glas ist halbvoll, Frodo"
"Du meinst, noch ist nicht alle Hoffnung verloren?"

Vielleicht werde ich langsam wirklich verrückt.

"120, Hände auf den Tisch, wo ich sie sehen kann!"

Ich lege meine Handflächen vorsichtig auf die kalte Tischplatte. Die Berührung ist unerträglich.

Die Fliege zieht ihre Kreise über meinem Kopf.

Ich stehe auf und blicke aus dem Fenster.

Glasbausteine.
Verschwommene Sicht.

Wenn man ganz nah an die Fenster herantritt und die Augen etwas zusammenkneift, dann kann man den Innenhof sehen.

Der Rosenhof. So nenne ich ihn.

In der Mitte gibt es ein großes Beet mit ganz vielen rosaroten Rosen. Man erkennt beinahe die einzelnen Blütenblätter, wenn man nur dicht genug herangeht.

Wenn man doch nur dicht genug herankäme!

"Wir werden niemals dicht genug herankommen!"
"Oh doch, das werden wir"
"Wie? Wir wissen nicht, was sich hinter der ersten Mauer verbirgt; Schießanlagen, die uns durchlöchern, sobald sie unser Signal empfangen, Hunde, die uns zerfetzen, sobald sie unseren Geruch wittern, Tretminen, die uns hochjagen, sobald wir eine auslösen, Soldaten, die uns ohne zu zögern, ohne den Hauch eines Gewissens ins Gefängnis stecken... Oder Schlimmeres"
"Es wird alles gut. Ich habe den Plan, er ist von einem Soldaten"
"Wie sehr kann man ihm vertrauen?"
"Wir können uns kein Vertrauen leisten. Wir können bloß unser Leben riskieren"
"Werden wir die anderen wiedersehen?"
"Wir werden es schaffen"


Der Rosenhof.
Die Glasbausteine.
Das Bett, auf dem keiner liegen darf.
Der Tisch, dessen Berührung schmerzt.
Das halbvolle Wasserglas.
Der Soldat vor der Tür.
Die dumme Fliege.


Es ist so langweilig.
Es ist zum Verrücktwerden.


Der Spiegel.
Zwei Schritte, schon bin ich dort.

Sehe hindurch. Sehe in meine Erinnerungen.
Und statt meines Gesichtes kann ich nun deines sehen.

Das kantige Kinn.
Die schmalen Lippen.
Die ernste Nase.
Der leichte Bartschatten.
Die Haare, die immer länger wurden.
Die dir so gut standen.
Ein Zeichen deines Protestes.
Du bist schon früher von der Schule suspendiert worden wegen deiner Haare.

Die braunen Augen.
Braun, brauner, am braunsten.



Wie konnte es dazu kommen?
Es war doch nur ein Fluchtversuch.

Der Wunsch nach Freiheit.

"Oh nein, nein nein nein nein nein! Wir sitzen ganz ganz tief in der Scheiße, wenn man uns erwischt"
"Frodo! Denk daran: Wir dürfen uns keinen Fehler erlauben!"

Deine Hände, die auf meinen Schultern liegen.
Um mich zu beruhigen, um mir Mut zu geben.

"Denk an das halbvolle Glas Hoffnung. Denk ans Fliegen. Denk an die anderen. Wir werden Felix und Flo wiedersehen. Andre, Rick, Steve. Vielleicht hat Flo inzwischen Ina geheiratet. Vielleicht haben sie ein Baby. Dann wirst du Patenonkel"

"Patenonkel", wiederhole ich monoton.

"Denk an die Freiheit, Frodo. Für nichts anderes riskieren wir hier alles. Freiheit"
"Freiheit, Jako"
"Freiheit"

Dein Nicken.
Dein Lächeln.
Deine Hand, die mich die Mauer hochzieht.
Deine Füße, die laufen.
Auf die Freiheit zu.
Die Freiheit.

Du auf der Mauer.
Ich will zu dir.
Ein Schuss.
Blackout.
Weiße Wand.

Wo du nun bist, weiß ich nicht.

Auf der anderen Seite?

In Sicherheit?

Tot?

Oder bist du hier, in diesem Gefängnis?

Vielleicht ja nur ein paar Türen von mir entfernt.

Wenn ich doch nur etwas dichter an dich herankäme...




Du stehst dort auf der Mauer.
Deine Hand ist ausgestreckt.
Deine Augen blicken in meine.
Braun, brauner, am braunsten.






Selbst die Fliege übt inzwischen verzweifelte Selbstmordversuche in meinem Wasserglas.

Wann bin ich endlich bei dir?

Wo bist du?

Du unerträglich weiße Wand, halt doch endlich den Mund!








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Es war einmal ein Martjana, das zum ersten Mal in Berlin war.
Dort war es im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen.
Dort hat es ein paar ziemlich krasse Eindrücke gesammelt, die es hier versucht hat, mit euch zu teilen.

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