Brief V.

22 2 0
                                    


Hallo Bente,

seit gestern bin ich nun für fünf Tage zuhause und ich muss zugeben, dass die Vorfreude schon kurz nach meinem letzten Brief an dich, verschwunden ist. Und auch heute freue ich mich nicht darüber zuhause zu sein. Obwohl, ich freue mich sehr Arvo wiederzusehen. Wie du merkst, mag ich nordische Namen sehr. Arvo ist finnisch und bedeutet Würde. Hendrik kommt aus dem Altdeutschen und bedeutet Herrscher. Ich mag meinen Namen nicht, ich hätte mir einen nordischen Namen gewünscht. Erik zum Beispiel. So wie Erik der Rote. Oder Leif, wie sein Sohn. Ich weiß nicht, ich finde Wikingernamen sind so rau und mächtig. So wie die Landschaft eben, da oben im hohen Norden. Die Wikinger mich fast so sehr wie das Universum mit seinen Sternen. Manchmal, da denke ich darüber nach wie es wäre, wenn ich ein Stern könnte. Ich stelle es mir komisch, aber ach wunderschön vor. Man muss eine wundervolle Aussicht haben von da oben. Ein bisschen bin ich ja wie ein Stern. Sterne sterben schließlich auch. Dann ist da einfach nur ein riesengroßes Nix, von dem wir manchmal gar nichts merken. Wenn ich sterbe, wird das auch kaum jemand merken. Nur die Menschen um mich herum. Ich frage mich was mit einem passieren würde, wenn man auf einem Stern stehen würde, der in diesem Augenblick stirbt. Vielleicht würde man in einen großen Raum voller Leere gezogen werden. Aber diese Gedanken sind so irreal, dass sie mir Angst machen. Vielleicht kann ich es irgendwann mal ausprobieren, da muss ich dann keine Angst mehr haben. Und ich denke so ist das auch mit dem Sterben. Wenn man es ein zweites Mal tun könnte, wäre es sicherlich nicht so schwer. Dabei ist sterben gar nicht so schwer. Ich könnte jetzt einfach hier liegen bleiben für lange Tage und irgendwann wäre ich halt tot. Aber für mich ist das keine Option. Ich bin jetzt 12 Jahre alt und nehmen wir mal an, dass ich noch 1 ein Jahr zu leben habe. Dann muss ich in diesem Jahr alles nachholen, das ich in meinen ganzen Lebensjahren ohne Krabbi noch tun könnte. Alles ist ein wenig viel. Wenn ich mit 85 Jahren sterben würde und in diesem einen Jahr all die Dinge tun muss, müsste ich in diese 365 Tage die 26645 Tage meiner restlichen 73 Jahre Lebenszeit quetschen. Das ist wohl unmöglich. Aber ich kann in diese 365 Tage oder wie viele es auch immer sein werden, so viel Leben wie möglich stecken. Natürlich werde ich nie heiraten oder Kinder bekommen, aber ich möchte zum Schluss sagen können, dass ich Glück bin mit dem, was ich erreicht und getan habe. So als sei ich ein alter Opa, der sein ganzes Leben über gearbeitet hat. Vielleicht denkst du dir jetzt, dass ich nicht so pessimistisch sein sollte, schließlich lebe ich ja noch. Eigentlich bin ich nur realistisch. Aber wenn du dir das wünscht, kann ich auch optimistisch sein. Auch wenn ich glaube, dass Optimismus auf lange Sicht enttäuschend ist. Es gibt ein Sprichwort, das wie folgt lautet: „Betrachte immer die helle Seite der Dinge. Und wenn sie keine haben, dann reibe die dunkle bis sie glänzt." Ich bin wahrlich kein Mensch, der etwas von Sprichwörtern hält, aber dieses hier gefällt mir. An der Wand in meinem Zimmer hängt ein Kalender mit ganz vielen solcher Sprichworte. Manche sind traurig, manche sind schön. Manche lassen einen nachdenken und manche bringen einem zum Lachen. So wie Maja. Ich denke oft an sie. Wir haben uns nur selten gesehen seit ich den letzten Brief an dich schrieb. 5 Mal um genau zu sein. Es gibt ein Treffen mit ihr, von dem ich dir erzählen möchte. Es war ein sonniger Sonntagnachmittag. Der einzige Tag in der Woche, an dem meine Eltern zu Besuch kommen. Mir ging es an diesem Tag nicht sonderlich gut und trotzdem bin ich Maja ein bisschen im Park spazieren gegangen. Ich finde dieses Gefühl, das man dabei verspürt, schrecklich. Man weiß, dass man da entlang gehen kann wie jeder andere Mensch auch, nur man ist nicht wie jeder andere Mensch. Während jeden Tag so viele Menschen einfach wieder heim gehen können, muss ich hier bleiben. Während so viele Menschen abends in ihren gemütlichen Betten einschlafen, liege ich in meinem Bett und zähle die Flecken an der Decke und warte bis der Schlaf mich holt. Und obwohl ich eben genau dieses Gefühl mehr hasse, als alles andere, war dieser Tag einer der schönsten und wahrscheinlich auch einer der bedeutsamsten in meinem Leben. Freiheit ist etwas, das ich schon lange nicht mehr spüren durfte. Immer wenn ich denke, dass ich frei bin, merke ich wie Krabbi mir die Luft zum Atmen nimmt. Aber an diesem einen Tag habe ich die Freiheit so deutlich gespürt, dass ich dachte ich würde zu den Sternen schweben. Ich saß mit Maja unter einem alten Baum. Ich glaube es war eine Ulme, aber ich bin mir nicht. Ich hoffe das ist nicht so wichtig für dich. Wir saßen einfach nur da und schwiegen uns an. Und obwohl wir schwiegen, waren unsere Worte so laut, dass ich dachte jeder Mensch, ja jeder Stern dort oben am Himmelszelt, wäre in der Lage sie zu hören. Sie war die Erste, die diese Stille mit ihrer zarten Stimme durchbrach. Und Bente, ich verspreche dir, dass es die schönste Stimme ist, die ein Mensch hören kann. So als würde ein Engel einem zarte Worte ins Ohr hauchen. Ich weiß nicht ob das Liebe ist, aber ich glaube nicht. Liebe ist etwas, dem ich nicht viel abgewinnen kann. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Liebe nur eine chemische Reaktion ist. So wie die Explosion einer Bombe. Und obwohl ich nicht viel von der Liebe halte, war es als würde eine Bombe in meinem Herzen explodieren, als unsere Hände sich berührten. Wahrscheinlich kommst du mit dem Denken überhaupt nicht mehr hinterher, deshalb versuche ich es nochmal schön langsam und der Reihe nach zu erklären. Wir spazierten also in dem kleinen Park umher und setzten uns unter die alte Ulme. Ein wirklich alter Baum, wie mir scheint. Ein Opa unter den Bäumen meinte mein bester Freund als ich ihm davon erzählte. Jedenfalls saßen wir da und schwiegen uns an. Worüber soll man auch reden, wenn der Tod über einem hängt wie eine schwarze Wolke. Sollte ich mich vorstellen mit: „Hallo ich bin Hendrik, bin 12 Jahre und in meiner Lunge sitzt Krabbi, der dabei ist mich zu töten. Man kann nie wissen, ob dieses Treffen das letzte sein wird. Und ja." Ich denke nicht, dass das eine geeignete Begrüßung für ein solch schönes Mädchen ist. Das Schweigen brach Maja mit einem Zitat aus ihrem Lieblingsbuch. Den genauen Wortlaut weiß ich nicht mehr. Es ging darum, dass wohl irgendein Fuchs den Aufbau einer Freundschaft mit dem Zähmen verglich. Das ist wohl eine ganz neue Art jemanden zu fragen, ob er ein Freund sein möchte. Aber auch eine sehr schöne Art. Es ist komisch hier Freunde zu haben, aber gleichzeitig auch so wunderschön. Man weiß zwar, dass Tod über uns allen hängt, aber trotzdem bekommt man die Möglichkeit so viele schöne Dinge zu erleben. Dinge, die für gesunde Menschen eine Selbstverständlichkeit sind. Freunde sind Menschen, auf die man sich in guten und in schlechten Zeiten verlassen kann und ich glaube gerade hier gibt es so viele schwere Zeiten, die man durchleben muss. An diesem Abend habe ich mich gefragt, was wohl ein gesunder Mensch über diese Freundschaft denken würde. Wie dieser Mensch wohl fortfahren würde. Nur stellt sich die Frage für mich einfach nicht mehr. Ich bin krank und meine Krankheit verformt mich. Sie macht mich zu einem Menschen, den ich selbst nicht wiedererkenne. Zu einem Menschen, der mir Angst macht. Aber was mir noch viel mehr Angst macht, ist der gedanke, dass Menschen, die mir viel bedeuten, mich verlassen weil ich eben anders werde. Auf der einen Seite sehne ich mich so sehr nach Nähe, aber auf der anderen Seite kann ich sie nicht ertragen. Ich muss immer daran denken, dass ich bald vielleicht nicht mehr da sein werde und wie ein Stern ein Loch in der Welt meiner Familie und Freunde hinterlasse. Und nicht nur ich habe davor Angst, sondern auch mein bester Freund. Auf ihn kann ich immer zählen und wir haben so viele Momente erlebt, die so wunderschön waren, dass ich gar nicht daran denken möchte, dass all dies vielleicht bald ein Ende hat. Ich hoffe so sehr, dass unsere Freundschaft an all dem wachsen kann. Und wer weiß, vielleicht sitzen Lasse und ich später mal an unserem Lieblingsplatz und reden über alte Tage. Darüber wie Krabbi mein Leben beinahe vernichtet hätte. Aber in einem bin ich mir die letzten Tage sicher geworden. Ich werde meinem Leben so viel Leben wie möglich einhauchen und Krabbi nicht kampflos das Feld überlassen. Das ist nun doch länger geworden, als gedacht. Und im Nachhinein erscheint mir das alles ziemlich wirr, wofür ich mich entschuldigen möchte. Aber in meinem Kopf schwirren so unzählig viele Gedanken umher, die ich nicht ordnen kann. Ich melde mich die Tage wieder, mach's gut bis dahin.

Liebe Grüße wünscht dir dein

Hendrik

A loveletter to the lifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt