Guten Tag Bente,
heute ist Heiligabend und das wird mein erstes Weihnachtsfest mit dem Krebs, und hoffentlich wird es auch mein letztes sein. Ich weiß nicht, ob du auch Weihnachten feierst, aber vielleicht interessiert es dich ja wie meine Familie normalerweise Weihnachten feiert. Ich weiß nicht wie dieses Weihnachtsfest werden wird, aber ich bin mir sicher, dass es nicht so schön sein wird wie sonst. Nichts ist mehr so schön wie es früher war. Dafür ist die Angst meiner Familie viel zu groß geworden und so etwas wie Weihnachten oder Geburtstage feiern gibt es nicht mehr. Sie denken, dass man nicht mehr feiern darf, weil ich ja jetzt krank bin. Krank feiert man nicht. Und deshalb habe ich dieses Jahr einen ganz besonderen Wunsch an den Weihnachtsmann geschrieben. Ich wünsche mir, dass wir noch einmal ein ganz tolles Weihnachtsfest zusammen feiern können. So wie wir es sonst auch jedes Jahr getan haben. Dieser Tag soll ein Tag werden, an dem die komplette Familie Krabbi für ein paar wenige Stunden vergessen kann. Ich wünsche mir, dass es schon früh am Morgen nach wunderbarem Essen duftet. Dass wir am Frühstückstisch alle zusammen lachen und die köstlichen Pfannkuchen meiner Mutter essen, am liebsten mit ganz viel Nutella. Und später wenn meine Großeltern zu Besuch kommen, möchte ich die Zeit mit meinem Großvater nutzen und an meiner Modelleisenbahn weiterbauen. Diese habe ich vor ein paar Jahren zu meinem Geburtstag bekommen, seitdem ist das ein Hobby, das ich mir mit meinem Großvater teile. Auch wenn er oft barsch ist, wenn wir unten im Keller daran arbeiten, ist er der wundervollste Großvater, den man sich vorstellen kann. Er weiß alles über Eisenbahnen und hat so viel über seine Zeit als Lokführer zu erzählen. Einmal hat er mich mitgenommen, als er auf einer alten Bahnstrecke Touristen mit einer alten Dampflock durch die schöne Landschaften gefahren hat. Ich durfte bei ihm vorne mit fahren und Bente glaube mir, es war so aufregend zu sehen wie die große Lok sich durch die Landschaft zwängt. Das war eines der schönsten Erlebnisse, die ich mit meinem Großvater hatte. Mittlerweile ist aus ihm ein alter zerbrechlicher Mensch geworden. Da das Gehen ihm schwer fällt, sehe ich nur noch selten, um so mehr freue ich mich darüber, wenn er mich zusammen mit meiner Großmutter besucht. Meine Großmutter kocht das beste Weihnachtsessen, das ich je gegessen habe. Wobei ich bisher auch nur das von meiner Großmutter probieren konnte. Aber egal was sie kocht, es ist immer vorzüglich. Meine Großmutter ist ein lieber Mensch. Sie besucht mich immer, wenn mein Großvater einen Termin beim Arzt hat. Dann sitzen wir hier und reden. Manchmal erzählt sie mir Geschichten aus ihrer Kindheit. Teilweise klingen diese aber so absurd, dass ich mir nicht sicher bin, ob sie nicht einfach etwas zur Realität dazu erfindet, damit ich etwas habe, worüber ich mich freuen kann. Einmal da hat sie mir erzählt, dass im Sommer immer ein Mann mit Bären durchs Dorf in den Wald zog. Eines Sommers wollte sie unbedingt einen dieser Bären streicheln weil sie so flauschig aussahen und es verboten war. Sie schlich sich also raus als dieser Mann mit einem Dorfbewohner redete und ging leise zu den Bären um einen von ihnen zu streicheln. Nur waren diese nicht so zahm wie sie dachte und einer dieser Bären wollte sie angreifen. Der kleine Sohn vom Besitzer der Bären hatte sie die ganze Zeit über beobachtet und griff ein. Er konnte den Bären beruhigen und beschützte so meine Großmutter. Später half er ihr sogar einen der Bären zu streicheln. Meine Großmutter war ihm so dankbar, dass sie ihn zu einem Picknick einlud, wo sie sicher besser kennenlernten. Ein paar Jahre später heirateten die beiden. Es ist eine schöne Geschichte, nicht wahr? Aber ich weiß nicht wie viel davon ich ihr glauben kann. Mein Großvater hat mir nie davon erzählt. Er redet generell wie viel früher, eben nur über die Eisenbahn. Aber die Liebe zwischen meinen Großeltern ist schon etwas besonderes. Ich weiß zwar nicht wirklich was Liebe bedeutet, aber wenn ich es definieren müsste, dann wären es meine Großeltern. Es ist einfach die Art wie sie miteinander umgehen. Sie tun fast alles zusammen. Meine Großmutter isst ziemlich gerne Rosenkohl, mein Großvater hasst ihn und trotzdem ist er ihn, weil er weiß, dass es ihr Lieblingsessen ist. Die Liebe zwischen meinen Eltern ist da ganz anders. Früher waren sie auch so, aber mittlerweile streiten sie sich nur noch. Meistens besuchen sie mich alleine, weil sie wissen, dass sie sich nur vor mir streiten würden, wenn sie gemeinsam kommen würden. Irgendwo macht mich das traurig, weil ich weiß, dass ich der Grund dafür bin. Wie immer bin ich der Grund dafür. Seit Beginn meiner Krankheit bin immer ich der Grund. Ich bin der Grund, wenn sie sich streiten. Ich bin es warum meine Mutter weint. Wegen mir wünscht mein Großvater sich zu sterben. Weil er es nicht ertragen könnte, wenn ich vor ihm sterben würde. Und weißt du Bente, das ist der Grund warum ich möchte, dass wir heute Heiligabend wie immer verbringen. Ohne auch nur einen Gedanken an Krabbi zu verschwenden. Wer weiß, vielleicht ist das unser letztes Weihnachtsfest zusammen und dann sollte es doch perfekt sein, oder? Es sollte ein Fest der Liebe sein und nicht ein Fest, an dem man sich streitet und traurig. Aber ich weiß nicht, ob das mit dem Krebs in mir möglich ist. Ich hoffe es. Ich hoffe, dass mir der Weihnachtsmann mir diesen Wunsch erfüllen konnte, es war mein einziger dieses Jahr. Ich weiß, dass ich trotzdem Geschenke bekommen werde, nachdem wir im Gottesdienst waren. Aber die haben für mich keine Bedeutung mehr. Das größte Geschenk heute wird die Zeit mit meiner Familie sein. Und trotzdem wird jemand fehlen, wenn die ganze Familie heute zusammenkommt. All meine Onkel und Tanten, meine Cousinen und Cousins. Sie kommen alle wegen mir, nur wegen mir. Wobei, eigentlich kommen sie wegen Krabbi. Weil Krabbi vielleicht dafür sorgt, dass ich beim nächsten Weihnachtsfest nicht mehr da sein werde. Aber wenn dies mein letztes Weihnachtsfest wird, dann bedeutet das auch, dass ich es ohne Arvo verbringen muss. Meine Eltern mussten Arvo bei Freunden unterbringen damit ich diesen Tag Zuhause verbringen kann. Durch die Chemo ist mein Immunsystem extrem geschwächt und Arvo trägt viel zu viele Bakterien mit sich herum. Das wäre zu gefährlich für mich. Das macht mich schon etwas traurig, schließlich gehört er zur Familie und ich vermisse es mit ihm zu schmusen. Er ist ziemlich gewachsen in der letzten Zeit. Ich kann das alles nur auf Bildern verfolgen. Da wächst er und wächst und ich kann nicht dabei sein. Ich hatte mir so sehr einen Hund gewünscht und jetzt darf ich nicht mal Zeit mit ihm verbringen. Aber damit muss ich mich arrangieren. Meine restliche Familie kommt ja und darauf sollte ich mich freuen, schließlich ist das ja etwas schönes. Mir fällt auf, dass ich gar nicht zu Ende erzählt habe, wie wir unser Weihnachtsfest verbringen. Ich schweife immer ab, aber es gibt bei jedem Brief so viel, dass ich zu erzählen habe, dass ich da manchmal durcheinander komme. Ich erzähle jetzt einfach weiter von unserem Weihnachtsfest. Nachdem ich mit meinem Großvater bei der Modelleisenbahn war, gehen wir normalerweise spazieren. Mit viel Glück liegt an Weihnachten Schnee, dann sieht die Landschaft so wunderschön aus. Dieses Jahr geht das nicht. Zumindest für mich nicht. Es wäre viel zu anstrengend für mich unseren normalen Spaziergang zu gehen, weshalb ich im Rollstuhl geschoben werden muss. Das ist mir manchmal unangenehm, aber es ist immer noch besser als alleine Zuhause zu bleiben. Nach dem Spaziergang gehen wir alle in die Kirche. Früher fand ich es dort immer extrem langweilig, aber dieses Jahr habe ich mir vorgenommen zu beten und aufmerksam zu sein. Vielleicht hört Gott meine Nachricht ja und hat eine Möglichkeit wie mir geholfen kann. Oder kann zumindest nach meinem Tod auf all meine liebsten Menschen aufpassen. Später gibt es dann Essen. Normalerweise immer den Weihnachtsbraten meiner Großmutter mit Klößen, darauf freue ich mich schon sehr. Das ist mal was anders, als das Essen aus dem Krankenhaus. Nach dem Essen ist Bescherung, der Teil auf den ich dieses Jahr verzichte könnte. Dennoch ist es mir wichtig, weil ich dort Zeit mit meiner Familie verbringen kann. Aber eben auch nur mit meiner Familie. Ich hätte gerne auch noch Zeit mit Maja und Lasse heute verbracht, aber meine Mutter meinte das geht nicht, schließlich feiern die beiden ebenfalls mit ihren Familien Weihnachten. Das ist schade, aber das muss ich wohl akzeptieren. Gleich werde ich abgeholt und dann darf ich dir im nächsten Brief hoffentlich von meinem schönen Weihnachtsfest berichten.
Ich weiß ja nicht wann du diesen Brief lesen wirst, oder ob ihn überhaupt jemand lesen wird, aber ich wünsche dir dennoch ein wunderschönes Weihnachtsfest und hoffe, dass du eine schöne Zeit mit deiner Familie verbringen kannst! Mach's gut, ich melde mich die Tage wieder
Dein Hendrik
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A loveletter to the life
Teen FictionEin Roman über die erste Liebe, das Leben und den Tod eines krebskranken Jungen, der sich mit seinem Schicksal nicht abfinden möchte