Brief VI.

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Hallo Bente,

Ich fange an dir unregelmäßig zu schreiben und das tut mir leid, aber weißt du in meinem Kopf türmen sich die Gedanken und ich kann sie einfach nicht ordnen. Es gibt so viel das ich dir erzählen möchte, aber sobald ich es zu Papier bringen möchte, sind all meine Gedanken fort. So als seien es Vögel, die von einem Moment auf den anderen fortfliegen und nie wieder kommen. Dabei sind es so schöne Dinge, die mir manchmal im Kopf umher schwirren. Vielleicht erzähle ich dir erst einmal was die letzten Tage so passiert ist. Seit vorgestern bin ich wieder im Krankenhaus und ich muss sagen, dass die Tage davor, also die Tage, an denen ich zuhause war, ziemlich schön waren. Zumindest wenn meine Eltern meine Krankheit für ein paar Augenblicke vergessen haben. Das kam allerdings sehr selten vor. Manchmal habe ich mich gefühlt als hätte ich auf meinem T-Shirt stehen „Vorsicht zerbrechlich". All die Dinge auf die ich mich so sehr gefreut hatte, wie zum Beispiel Fußball spielen, fangen spielen oder Drachen steigen lassen, durfte ich nicht tun. Aber an einem Tag habe ich mich rausgeschlichen. Mama und Papa sind mit Marit spazieren gegangen und haben mich alleine gelassen, diese Chance habe ich genutzt und bin zu Lasse gegangen. Bei ihm haben wir einen riesen großen Drachen gebaut. Und mit Lasses Papa sind wir dann zum großen Hügel gelaufen und haben ihn fliegen lassen. In diesem Moment habe ich mir gewünscht auf dem Drachen sitzen zu können und alles, was mir jetzt so groß und gewaltig erscheint von oben zu betrachten. Ich weiß nicht, vielleicht kennst du Nils Holgersson. Wenn nicht, fasse ich es hier kurz zusammen. In dem Buch geht es um einen kleinen Jungen, der auf einer Gans mit Wildgänsen durch die Gegend fliegt und Abenteuer erlebt. Früher wollte ich das auch können und der Moment, in dem wir den Drachen stiegen ließen, erinnerte mich daran zurück. Oh, wie schön könnte das sein, wenn ich so frei wäre wie der Drache es war. Aber das bin ich nicht. Ich bin an dieses Zimmer gefesselt und alles, was ich tun kann, ist nachzudenken. Nachzudenken über Dinge, über die sich kaum jemand in meinem Alter Gedanken macht. Über das Leben und den Tod. Über meine Beerdigung und Krabbi. Und wenn ich ehrlich bin, möchte ich darüber gar nicht nachdenken. Siehst du, das meinte ich damit, dass ich meine Gedanken nicht ordnen kann, andauernd komme ich vom Thema ab und erzähle dir Dinge, über die ich gar nicht reden möchte. Um wieder auf das Drachensteigen zurück zu kommen. Irgendwann kamen meine Eltern vorbei und waren stinksauer. Die Tage danach waren schrecklich. Immer wenn ich sie ansah, wusste ich was ich für einen Fehler gemacht hatte. Aber Bente, was ist falsch daran zu leben? Meine Eltern haben noch Zeit um schöne Dinge zu erleben, aber meine ist begrenzt und alles, was ich mir wünsche ist Leben zu dürfen. Das können sie aber nicht verstehen. In ihren Augen soll ich nur die Dinge tun, die gut für mich sind. Nur, dass gerade mal zwei Dinge sind. Im Bett liegen und hoffen. Aber hoffen worauf? Darauf, dass Krabbi von einem Tag auf den anderen verschwunden ist oder hoffen darauf, dass ich sterbe ohne große Schmerzen zu haben? Mama hat mir verboten über den Tod nachzudenken, aber in mir drin denke ich nur darüber nach, was passiert wenn ich auf meine letzte Reise gehe. Außerdem ist man in einem Krankenhaus dem Tod so unglaublich nahe, da setzt man sich automatisch damit auseinander. Ich habe Angst davor zu sterben Bente. Wobei eigentlich stimmt das nicht. Ich habe nicht Angst davor zu sterben, sondern Angst davor eine Lücke zu hinterlassen, die niemand füllen kann. Davor, dass jeder, der mir wichtig ist, aufgibt anstatt zu leben. Vielleicht fragst du dich warum ich die ganze so negativ denke und selbst nicht daran glaube, dass ich Krabbi besiege, aber das stimmt nicht. Wenn du jetzt einen ganz wichtigen Test schreibst, der darüber entscheidet wie dein Leben weitergeht, machst du dir doch auch Gedanken darüber was alles passieren kann. Und das mache ich auch. Ich denke über meinen Zwei-Punkte-Plan nach. Plan a bedeutet Leben, Plan b sterben. Ich bevorzuge Plan a, aber wenn Plan a immer funktionieren würde, bräuchte man keinen Plan b. Und weißt du was das Gute an meinem Plan ist? Ich kann so lange Plan a ausführen, bis Plan b eintritt. Das kann morgen sein, oder aber auch erst in 60 oder 70 Jahren. Aber irgendwann, da kommt Plan b. Denn den Tod kann man nicht aufhalten, vielleicht für kurze Zeit, aber letztendlich ist der Tod ein Gegner, der immer gewinnt. Davor haben meine Eltern aber Angst. Davor, dass der Tod jetzt schon mächtiger ist, als ich. Ich habe davor keine Angst. Ich entschuldige mich für meine verwirrten Worte und da du jetzt sowieso schon verwirrt genug bist, werde ich den Brief hier beenden. Aber wenn du bis hier her gelesen hast, versprich mir Plan a durchzuführen. Gehe raus und lebe. Lebe für all die Menschen, die es nicht mehr tun können. Tu all die Dinge, die du so gerne tun möchtest. Mach schnell, denn die Zeit läuft und man weiß nie zu welchem Zeitpunkt sie versiegt.

Mach's gut und bis dann

Dein Hendrik  

A loveletter to the lifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt