Brief VII

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Hallo Bente,

hier bin ich wieder, mit klareren Gedanken und neuem Lebensmut. Ich weiß nicht, vielleicht kennst du es, dass du an einem Tag total fröhlich bist und an anderen Tagen einfach nur unter der Decke bleiben möchtest. In deiner eigenen kleinen Höhle, in der du frei bist von all dem Bösen und Schlimmen, das da draußen in der Welt passiert. Heute ist einer der Tage, an denen ich am Liebsten die ganze Welt umarmen möchte und an allen sagen möchte, wie schön das Leben ist. Denn das ist es wirklich. Heute hat Maja die Nachricht erhalten, dass ein Stammzellenspender für sie gefunden wurde. Und Bente, du kannst mir glauben, dass mich das so glücklich macht! Ich weiß, dass es Menschen gibt, die sich nur bedingt freuen könnten, da sie sich fragen, warum sie nicht solches Glück haben können. Aber so ein Mensch bin ich nicht. Maja hat die Chance auf ein gesundes Leben bekommen und das gönne ich ihr von ganzem Herzen. Sie ist so ein Sonnenschein und ich finde es sollte mehr Sonnenschein geben auf der Welt. Wenn man so darüber nachdenkt, ich mein Leben ein bisschen wie ein Regenbogen. Krabbi ist der Regen und Maja die Sonne. Ohne das andere kann der Regenbogen nicht existieren. Und ohne Krabbi hätte ich Maja wahrscheinlich niemals kennengelernt. Ohne Krabbi hätte ich einige Dinge nicht gelernt, zumindest nicht so früh. Ich denke, wenn ich schon ein alter Opa wäre, der an einem lauen Sommerabend auf seiner Veranda sitzt und nachdenkt, wüsste ich sicherlich auch einiges über das Leben. Dinge über den Tod, über den Verlust von Menschen, aber ich bin eben kein alter Opa, sondern nur ein kleiner Junge mit Krebs, der trotzdem viel über das Leben zu erzählen hat. Als Maja mir heute von der Stammzellenspende erzählt hat, stand sie am Fenster und schaute in den weiten, blauen Himmel, der fast wolkenlos war. Sie stand da so sanftmütig, wie ein Engel, in ihrem Blümchenkleid und ihrer roten Mütze auf dem Kopf. Ihr Kleid hatte ein dunkles Blau und die Blumen darauf ein reines Weiß. Ich glaube es waren Margeriten, aber ich bin mir nicht sicher. Blumen interessieren mich kaum. Wäre aber Mama hier gewesen, hätte sie es mir sicherlich sagen können. Sie stand da also in ihrem Kleid am Fenster und starrte aus dem Fenster, so als wäre da draußen etwas, das einen mehr faszinierte als alles andere. Ich fragte mich nur kurz was es denn da so zum Bestaunen gab, aber eigentlich wusste ich es von vorneherein, schließlich starre auch ich tagtäglich aus diesem Fenster. Da draußen ist das Leben. Das Leben in all seiner Pracht und Fülle. Hier in diesem Betonklotz aber, ist der Tod und der Kampf um das Leben. Da draußen ist die Freude, die einem das gesamte Herz, den gesamten Körper ausfüllen kann, sodass man die Wärme des Lebens von innen spürt. In den düsteren Gängen, die es hier überall gibt, wartet aber die Trauer und der Kummer darauf die Herzen der Menschen zu überfallen und aus ihnen dunkle Orte zu machen, die die Dämonen in den Köpfen der Menschen speisen können. Und ohne jeden einzelnen gefragt zu haben, der hier in einem dieser kahlen Zimmer liegt, kann ich wohl mit Gewissheit sagen, dass die Welt da draußen das ist, wonach wir uns alle sehnen. Und während ich mir darüber wieder Gedanken machte wie das Leben ohne meine Krankheit wohl gerade sein könnte, brachen ihre Worte die angenehme Stille. „Du, Hendrik? In ein paar Wochen kann ich all die schönen Dinge da draußen wieder erleben, ohne den Krebs. In ein paar Wochen oder Monaten kann ich gesund sein. Irgendwo da draußen haben sie meinen genetischen Zwilling gefunden, der bereit ist mein Leben zu retten.", sagte sie. Im ersten Moment fehlten mir da wirklich die Worte. Und mir wurde wieder einmal bewusst wie nah hier Leben und Tod doch sind. Während Maja das Leben neu geschenkt bekommt, rückt der Tod für manche unaufhaltsam näher. Ich wusste in diesem Moment nicht einmal was ich sagen sollte, denn keine Worte hätten in diesem Moment meine Freude ausdrücken können. So nahm ich sie nur in den Arm und so wurde dies wieder zu einem dieser Momente, in dem Worte zwischen Maja und mir überflüssig waren. So standen wir also beide am Fenster und schauten uns das Leben da draußen an. Die Vögel, die blitzschnell am Fenster vorbeiflogen. Die Schneeflocken, die in sanftem Tempo vom Himmel rieselten. Die Menschen, die dick angezogen durch die dünne Schneeschicht stapften. Ich kann gar nicht genau sagen wie lange wir da standen und über diese wundervollen Nachrichten lächelten. Immer wenn ich mit Maja Zeit verbringe, kommt es mir vor als sei es eine Unendlichkeit. Aber keine erdrückende Form, wie man sie vielleicht in der Schule erlebt, wenn einen die Stunde oder der Lehrer so sehr langweilt, dass die Stunde kaum zu vergehen scheint, sondern eine befreiende und wunderschöne Form. Jeder Moment mit ihr, ist ein Moment, den ich nie mehr vergessen möchte und der eigentlich überhaupt nicht zu Ende gehen soll, da er so wunderschön ist wie der Regen für die Pflanzen nach einer Dürreperiode. Manchmal wenn ich nachts nicht schlafen kann, denke ich an sie. An unser erstes Treffen und ihre Schönheit. Ich weiß noch genau wie sie mit ihren Eltern in der Eingangshalle stand und weinte. Und obwohl die Tränen ihr die Wangen herab liefen, war es das schönste Mädchen, das mir je begegnet ist. Sie hatte so wunderschöne braune Haare, die in sanften Bahnen auf ihre karierte Bluse fielen. Und obwohl ich Menschen normalerweise nicht nach ihrem Äußeren beurteile, war mir klar, dass das ein wunderschöner Mensch sein musste –von innen, wie von außen. Auch wenn ich oft falsch liege mit meinen Vermutungen, waren sie in diesem Fall richtig. Maja ist in der letzten Zeit der Mensch, der mir am Meisten Kraft spendet. Dafür muss sie nicht mal viel tun, es reicht da zu sein. Ich weiß nicht, ob das Liebe ist oder einfach nur eine Freundschaft, die unglaublich schnell und tief gewachsen ist. Es fühlt sich nicht so an als würde ich Maja erst seit so einer kurzen Zeit kennen. Es fühlt sich mehr so an als hätte ich meine komplette Kindheit mit ihr verbracht, so sehr sind wir innerlich verbunden. Wenn ich das so schreibe, klingt das so als wäre meine Kindheit schon vorbei. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte, schließlich bin ich gerade mal zwölf Jahre. Eigentlich doch die perfekte Zeit um Kind zu sein. Aber mit Krabbi geht es schwer Kind zu sein. All die Dinge, die Kinder in meinem Alter tun, sind für mich Tabu. Mir fehlt das Kind sein irgendwie. Weißt du, von jetzt auf gleich wurde von mir erwartet, dass ich erwachsen sein muss. Dass stark sein muss und meine Wünsche oftmals in den Hintergrund stellen muss. Das fühlt sich so an als hätte mich jemand ins eiskalte Wasser geschubst und verlangt jetzt von mir, dass ich schwimmen lerne und nicht ertrinke. Ertrinken kann ich im Erwachsen sein auch. Ich könnte einfach aufgeben, ich könnte Krabbi die weiße Flagge zeigen, nur dass ihn das nicht zum aufhören bringen würde, er würde einfach weitermachen bis er mich letztendlich besiegt hat. Aber wenn ich irgendwann sterben sollte, Bente, dann möchte ich bis zum Schluss gekämpft haben. Wenn Krabbi dann stärker sein sollte, als ich, dann ist das eben so und diese Konsequenzen muss ich dann eben tragen. Aber nicht nur ich, sondern alle um mich herum auch. Denn der Tod betrifft eben nicht nur einen Menschen oder einen kurzen Augenblick. Und das zu wissen, tut unglaublich weh. Denn egal wie viele Vorkehrungen ich treffen werde, der Tod wird mein Umfeld unter sich begraben und eine Lücke hinterlassen, die vielleicht nie wieder geschlossen werden kann. Ich komme jetzt mal zum Ende und melde mich dann morgen wieder.

Dein Hendrik

A loveletter to the lifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt