Guten Tag Bente,
gestern habe ich mir nochmal den letzten Brief an dich angeschaut. Irgendwie kommt mir der Brief im Nachhinein total wirr vor. Aber diese Phasen häufen sich in der letzten Zeit. Manchmal da weiß ich gar nicht mehr was ich vor fünf Minuten getan habe. Ich weiß nicht woher das kommt, aber ich hoffe, dass es sehr bald wieder verschwindet. Wir können das ja aber einfach als Thema für diesen Brief nehmen. Da ich nicht weiß an wen ich die Briefe schicken soll, sammle ich sie alle in einer braunen Holzkiste und ich bitte dich darum, dass du die Kiste versteckst, wenn du irgendwann mal alle Briefe gelesen haben solltest. Irgendwie ist das so etwas wie ein Tagebuch für mich geworden. Ich kann hier alles mit jemandem teilen. Meinen guten Tage, aber auch meine schlechten. Auch wenn ich die immer nur danach verfassen kann, denn an den schlechten Tage besitze ich keine Kraft, um einen Stift zu halten. Das sind immer die schlimmsten Tage, die ich je erlebt habe. Man liegt dann einfach nur um Bett und kann nichts tun. Während der Chemotherapie ist das oft so. Bald beginnt der nächste Block. Und ein bisschen habe ich davor Angst. Ich weiß zwar jetzt was auf mich zu kommt, aber wenn ich ehrlich bin, ist es genau das, was mir Angst macht. Beim ersten Mal war es eine ganz neue Erfahrung und obwohl der Arzt mir vorher gesagt hatte was auf mich zu kommen würde, hatte ich mich darauf gefreut. Ich weiß nicht was ich erwartet hatte. Vielleicht eine Art Zaubertrank. Einmal trinken und Krabbi ist weg. Aber so leicht ist das leider nicht. Nein, statt einem Zaubertrank bekomme ich nur eine Infusion an meinen Port gehängt. Das ist eigentlich gar nicht schlimm. Das Schlimme daran sind die Nebenwirkungen. An manchen Tagen konnte ich mich nicht mal wirklich hinsetzen, weil mein Körper so kraftlos war. Aber irgendwie war ich darüber auch froh. So konnte ich nicht aus dem Fenster schauen. Ich konnte nicht das Leben an mir vorbeiziehen sehen. Auch wenn meine Eltern mir immer sagen, dass mein Leben nicht an mir vorbeizieht. Das Leben ist doch fast wie eine Zugfahrt und mein Zug ist eben stehen geblieben, er ist defekt. Aber jeder andere fährt weiter. Und ich sitze in meinem Zug und muss dabei zuschauen wie alle anderen an mir vorbeifahren. Es ist ein entsetzliches Gefühl. Draußen liegt Schnee und andere Kinder in meinem Alter gehen jetzt Schlitten fahren, so wie mein bester Freund. Er erzählt mir immer davon. Er tut das nicht aus bösem Willen, das weiß ich, aber er verletzt mich trotzdem damit. Während sein Zug weiterfährt, ist meiner einfach stehen geblieben. Wir versuchen zwar ihn zu reparieren, aber was wenn das nicht funktioniert Bente? Vielleicht kann man mich einfach nicht mehr reparieren? Vielleicht bin ich ein Totalschaden. Und ich verstehe schon, dass es dann besser ist mich aus dem Verkehr zu ziehen. Ich könnte sonst zu viel Unheil anrichten. Wie ich dir am Anfang des Briefes erzählt habe, vergesse ich momentan viel. Aber leider nie das, was ich vergessen möchte. Es lässt mich das Leben nicht vergessen. Vielleicht klingt das ein bisschen blöd, aber ich vermisse das Leben. Ja, Bente, man kann das Leben vermissen. Ich vermisse das Lachen. Meinen Hund Arvo. Ich kann nicht dabei zuschauen wie er oder meine kleine Schwester wächst. Selbst wenn, man mich reparieren kann, das bleiben Dinge, die man nicht nachholen kann. Sicher, all die Dinge, die Lasse und all die anderen jetzt in der Schule lernen, werde auch ich irgendwann lernen. Und auch meine kleine Schwester kann ich aufwachsen sehen. Nur jetzt eben nicht. Dabei ist es genau das, was ich möchte. Jeden Tag mit ihr verbringen und die Fortschritte sehen, die sie macht. Sie beschützen. Ich möchte einfach nur ein großer Bruder sein. Aber sag, was ist das für ein großer Bruder, der zerbrechlicher ist als sie selbst? Was wenn sie irgendwann auf mich aufpassen muss? Dann habe ich versagt, oder? Ich würde gerne sagen können, dass ich wieder ein Kind bin, das Freude bringt, so wie meine Großeltern es früher immer sagten. Aber das bin ich schon lange nicht mehr. Und so schnell werde ich das auch nicht mehr sein. Einerseits freue ich mich immer, wenn meine Familie mich besuchen kommt, aber andererseits auch überhaupt nicht. In ihren Gesichtern sehe ich immer diese unbändige Traurigkeit. Vor meiner Krankheit kannte ich diese Gesichter nicht. Vor allem meine Großeltern hatten immer ein Lachen auf den Lippen. Aber ich weiß, dass jetzt die Angst ihren Alltag bestimmt. Wie ein grauer Schleier hat sie sich über sie gelegt. Ich vermisse das Lachen meiner Familie und es tut weh zu wissen, dass ich der Grund bin warum es verschwunden ist. Meine Großeltern haben Angst davor, dass ich vor ihnen sterbe. Aber diese Angst gibt es auch von meiner Seite aus. Ich habe Angst davor, dass sie sterben. Eigentlich ist das ziemlich dumm. Schließlich ist der Tod unvermeidbar, aber der Tod ist eben auch zerstörerisch. ich habe lange nach einem Wort dafür gesucht. Aber ich glaube zerstörerisch trifft es ganz gut. Er zerstört Leben, nicht nur das der Sterbenden, sondern auch das der Hinterbliebenen. Und genau das ist einer der Gründe warum ich kämpfe. Nicht unbedingt für mich. Ich glaube ich könnte gut damit leben zu sterben, ohne zu kämpfen. Aber meine Familie könnte das nicht. Anfangs habe ich mir geschworen, dass der Tod für mich kein Thema sein wird während der Zeit hier, aber ich habe gemerkt, dass es unvermeidbar ist. Es gehört hier glaube ich einfach dazu. Keiner, der hier ist, kann von sich wohl sagen, dass der Tod noch kein Thema für ihn war. Wenn man da draußen sein Leben lebt, ist es natürlich selbstverständlich, dass man den Tod keinen Gedanken verschwendet, er scheint ja schließlich so weit weg. Aber hier, bleibt einem sozusagen eigentlich gar nichts anderes übrig. Auf eine gewisse Art und Weise ist eine Nebenwirkung von Krebs. Nur, dass einem das niemand sagt. Jeder warnt einen vor der Chemotherapie davor, dass die Haare wahrscheinlich ausfallen und man sich oft übergeben muss. Aber vor dem alleine sein und den Gedanken an den Tod. Vor den ganzen Auseinandersetzungen, die man mit sich selbst führen muss. Vor all diesen Dingen warnt einen niemand. Dabei sind das die entscheidenden Dinge. Die Haare, die mir mittlerweile alle ausgefallen sind, werden nachwachsen. Das Übergeben hat auch irgendwann ein Ende. Aber diese Gedanken bleiben viel länger. Diese Gedanken werden das Leben eines Menschen für immer prägen. Sicher hat das auch gute Seiten. Schließlich weiß ich die schönen Seiten des Lebens so viel besser zu schätzen. Ich weiß jetzt, dass alles, was ich in meinem Leben für Schmerzen gehalten habe, eigentlich irrelevant ist. Ich weiß wie es sich anfühlt das Leben zu vermissen. Aber der Krebs hat mir eine Sache genommen, meine Kindheit. Meine Kindheit und alles, was man mit dem Kindsein verbindet. Sicher, wenn ich den Krebs besiegt habe, kann ich das alles nachholen, aber es wird nie das selbe sein. Denn meine Gedanken werden nie wieder die eines kleinen Kindes sein. Ich werde nie wieder so unbeschwert über eine Wiese rennen. Denn unbeschwert ist etwas nur, wenn man sich keine Gedanken darüber macht. Früher bin ich viel auf Bäumen geklettert um über die Welt blicken zu können. Ich war dabei unbeschwert, habe nicht darüber nachgedacht wie anders das Leben sein könnte, wenn ich nicht gesund wäre. Es hat für mich keine Rolle gespielt darüber nachzudenken, was wäre wenn. Jetzt aber wünschte ich, ich hätte mir früher Gedanken gemacht. Ich wünschte ich hätte das Leben intensiver gelebt. Das Leben zu leben, Erinnerungen zu sammeln, ist doch irgendwie das Lebenselexier, oder nicht? Wir tanken das Leben für die Zeiten, in denen wir es nicht können. Für Zeiten, in denen wir hier liegen und das Leben vermisse. Und langsam habe ich das Gefühl mein Vorrat an diesem Elexier neigt sich dem Ende zu, so als hätte ich nie gelebt. Ich habe gelebt das weiß ich. Die ganzen 12 Jahre über habe ich gelebt. Aber das Leben, das fühlt sich so unfassbar weit weg an. So als zieht es an mir vorrüber und wenn ich es greifen möchte, stoße ich nur an eine unsichtbare Wand, die mich daran hindert. So wie das Fenster hier im Krankenhaus. Davor ist das Leben. Davor ist all das, was ich mir wünsche nochmal tun zu können. Schwimmen gehen, fliegen, tanzen, schreien, Lego bauen, Räuber spielen, in die Schule gehen, die Welt entdecken, auf Bäume klettern. Einfach nur leben. Vielleicht lebe ich ja gar nicht mehr? Vielleicht überlebe ich ja auch einfach nur. Ich überlebe den Tag, aber ich lebe nicht. Ja, ich glaube das ist die Wahrheit. Nur eins kann ich dir sagen Bente, zu leben ist viel viel schöner. Und deshalb lebe, Bente. Wenn du im Regen durch die Straßen tanzen möchtest, tu das. Wenn du einfach mal wieder richtig lachen möchtest, tu das. Schaff dir Erinnerungen fürs Überleben. Für die Zeit, in der du nicht Leben kannst. Mach all die Dinge, die dich glücklich machen. Egal was andere drüber denken. Schaffe Erinnerungen, denn die kann dir keiner nehmen. Auch nicht so ein blöder Krabbi. Nur dein Leben, das kann er dir nehmen. Die Erinnerungen davor aber nicht.
Halt die Ohren steif, so wie ich auch. Und lebe, nicht so wie ich. Das ist Leben ist wundervoll, vergiss das nicht.
Hendrik
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A loveletter to the life
Teen FictionEin Roman über die erste Liebe, das Leben und den Tod eines krebskranken Jungen, der sich mit seinem Schicksal nicht abfinden möchte