Kapitel 05

310 31 13
                                    

Mit einem Apfel in der rechten, dem iPod samt den Kopfhörern in der linken Hand und dem zusammengefalteten Zettel in der Hosentasche, stieß ich unsere Terrassentür auf, um aus dem Wohnzimmer über die Terrasse in den Garten zu gelangen. Der Maihimmel strahlte in einem irren Blau und wurde von den spärlichen Wolkenfetzen, die transparent schimmernd über mich hinwegzogen, bedeckt. Die viel zu langen Gräser umstrichen meine Chucks und kitzelten, an der Stelle wo die Socke endete und das Hosenbein anfing, meine nackte Haut.

Der Rasen musste mal dringend wieder gemäht werden und wenn er nicht bald mal seinen Hintern in Bewegung setzte, würde ich es machen müssen. Mit einem Seufzen ließ ich mich auf meiner geliebten Schaukel nieder und legte das Musikgerät mit dem Apfel in das Gras neben dem dicken Stamm der Erle. Das beschriebene Blatt Papier erstmal in der Tasche lassend, drückte ich mich kräftig vom Boden ab und hob sofort in die Lüfte.

Ich war schon immer vernarrt in dieses Holzbrett gewesen, egal ob mit vier oder jetzt mit sechzehn. Meine Haare flatterten als braune Mähne hinter mir her und erhielten durch das Sonnenlicht einen rötlichen Schimmer. Beim vorderen Wendepunkt, wenn ich wieder in die entgegengesetzte Richtung schaukelte, wurden sie immer gegen meinen Rücken gedrückt um beim hinteren Wendepunkt wieder hinterher zu wehen.

Jedem Kind wurde etwas auf einer Schaukel beigebracht. Nicht nur, wie man sich auf diesem Brett zum Schwingen oder sogar zum scheinbaren Fliegen bringen konnte. Nein. Egal, wie tüchtig und man sich vom Boden abstieß und, wie hoch man kam, man schaffte es nie herum... Bei mir war es eigentlich ein Vorteil, da ich sonst vermutlich schon ein Dutzend Mal in der Erle, an dem die Seile meiner Schaukel befestigt waren, Schweinebaumeln hätte machen müssen.

Der Boden sauste als verwischtes Mischmasch unter mir hin und her und trug, bis auf ein paar von den Gänseblümchen stammenden weißen Tupfer, die Farben Grün und Braun.

Nach einiger Zeit ließ ich mich langsam ausschaukeln und brachte mich schließlich vollkommend zum Stillstand, indem ich meine Füße in die erdige Kuhle drückte, die ich damals schon Stück für Stück vertieft hatte in dem ich auf der Stelle jedesmal abbremste. Der Rasen war auch schon längst weggerissen wurden und die damalige stetige Bemühung meines Dad's neuen Rasen unter der Schaukel zu pflanzen, war kläglich gescheitert.

Der lauwarme Wind strich um meine Gesichtskonturen und jagte mir einen Gänseschauer über den Rücken. Die Idee auf den beschrieben Zettel von Jace zu schauen, bahnte sich in meine Gedanken, doch ich wollte es erstmal nach hinten schieben und keine unnötigen Gedanken an ihn verschwenden.

Meine Hand streckte sich nach meinem iPod aus und umschloss das kühle Gehäuse. Die Ohrenstöpsel um meine Finger wickelnd hob ich ihn hoch und legte ihn in meinen Schoß um darauf nach dem grünen Apfel zu greifen.

Ich wusste auch nicht warum, aber grüne Äpfel schmeckten mir einfach besser als rotbackige oder gar gelb gereifte. Es könnte sein, dass es daran lag, dass ich damals zu oft Schneewittchen gesehen hatte und diese an einer roten Apfelhälfte beinahe gestorben war oder an etwas anderem.

Eine kurze Zeit musterte ich mein Musikgerät und legte es schließlich wieder ins Gras. Musik hören konnte ich auch noch heute Abend. Ich erhob mich von der Schaukel und ließ mich im kühlen Gras neben der Erle nieder. Mit dem Rücken an der raue Borke lehnend, biss ich mit geschlossenen Augen in den Apfel und verzog bei dem leicht säuerlichen Geschmack meine Lippen zu einem Lächeln.

Die Spatzen zwitscherten hoch über meinem Kopf fröhlich ihre Lieder und ließen meine Gedanken in die damalige Zeit abschweifen, wo Marc und Mum noch bei mir waren. Und naja... Dad eigentlich auch. Sein jetziges Leben konnte man wohl nicht mehr Leben bezeichnen. Er saß die ganze Zeit eingeschlossen hinter der Bürotür und besoff sich, wie es schien, als wenn sein Leben davon abhängen würde. Ab und zu tat er die Sachen, die für mich schwierig oder unmöglich waren, beispielsweise Rasen mähen oder eben Steuern und Rechnungen zu bezahlen. Manchmal, ganz selten bekam ich ihn zu Gesicht, was aber nur von sehr kurzer Dauer war.

Ich seufzte. Warum konnten nicht noch Marc und Mum bei uns sein...?

Ich biss das letzte Mal in den Apfel und schleuderte anschließend das Kerngehäuse in den nächstliegensten Busch, aus dem laut protestierend eine Amsel per Himmel schoss.

Nach einiger Grübelei verlagerte ich mein Gewicht auf die eine Hälfte meines Körpers und zog den Zettel aus meiner Hosentasche. Mit einem leicht skeptischen Blick beäugte ich das zerknautschte Papier und faltete es schließlich in einer flüssigen Bewegung auseinander, wobei es mir leider mit einem lauten Ratschen entzwei riss.

Ein genervtes Stöhnen entwich mir und ich schloss für einen kurzen Moment meine Augen. Meine Finger knüllten das zerfledderte Blatt und rollten es schließlich zu einer unförmigen Kugel. Kurz darauf wurde es auch schon wieder von mir auseinander gefaltet und eine erschreckend saubere Schrift, die jedoch so aussah, als wenn jeder einzelne Buchstabe in einer Streckbank gesteckt hätte, kam zum Vorschein.

Meine Finger fuhren leicht verwundert über die Wörter und verschmierten ein 't', sodass sich ein bläulicher Strich über das karierte Weiß zog und es aussah, wie ein unschönes 'h'. Eine Anzahl von Ziffern sprangen mir ins Auge und mit einem trockenen Auflachen registrierte ich, dass es eine Handynummer samt Telefonnummer bildete.

Was dachte der sich? Wollte ich bei ihm einziehen oder was? Anrufen wollte ich jedenfalls nicht, da konnte er warten, bis er grau wurde.

Meine Augen wanderten weiter zur Adresse und blieben geschockt hängen. Fassungslos blinzelte ich einige Male und schluckte. Nochmal las ich sie mir durch, ob ich mich nicht verlesen hatte, doch blieb bei dem gleichen Entschluss: Jace wohnte in meiner Nachbarstraße.

Das konnte nicht sein. Nein, das war unmöglich. Ich hatte garnicht mitbekommen, dass dort ein Haus gebaut oder verkauft worden war. Okay, ich war auch nicht besonders informiert und pflegte zu niemandem Kontakt, weshalb man mich von den Bekanntschaften im und das Wissen über das Dorf auch als verirrten Touri sehen konnte...

Leicht neben der Spur hob ich die lose Stelle von der Grasnarbe am Stamm der Erle an und schob Jace's Zettel darunter. Meine Hose abklopfend und den iPod angelnd, stand ich auf und schritt auf unser Haus zu. Die Sonne hatte einen erschreckend langen weiteren Teil ihres täglichen Wegs zurückgelegt und die Schatten in die Länge gezogen.

Das Gefühl zu FliegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt