Kapitel 06

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"Hey Caitlin", hörte ich eine Stimme von hinten rufen, "soll ich dich ein Stück mitnehmen?". Ohne mich umzudrehen, wusste ich sofort wer es war. Fuß vor Fuß setzend, zog ich den Gurt meiner Schultasche mit einem kleinen Hopser einen Ticken höher und ignorierte ihn vorerst. Der Bürgersteig wurde heute ausnahmsweise mal nicht, von Pfützen gesäumt und offenbarte den ein oder anderen Grasbüschel, der den Reinigern bei dem Höllenwetter aus Hektik oder einfach Schlamperei entwischt war.

Das Surren eines Fahrrades wurde langsam lauter und das laute Klacken, der anscheinend nicht ganz so funktionstüchtigen Pedalen, drang an meine Ohren. Kurz darauf tauchte auch schon Entsprechendes mit der dazugehörigen Person auf, die durch eine Betätigung ihrer Handbremse meine Höhe erreichte und schließlich neben mir in einem langsamen Tempo her rollte.

"Hey", kam es von Jace, der mich mit einem komm-ich-geh-dir-mal-etwas-auf-die-Nerven Gesichtsausdruck ansah. Genervt rollte ich mit den Augen und blickte ihn nach einer weiteren halben Minute des Schweigens fragend an. "Du weißt schon, dass du dich gerade arg unbeliebt und zu dem auch noch zum Affen machst?", wies ich in hin und schaute erneut auf den gepflasterten Boden.

Er warf nur einen kurz angebundenen Blick über die Schulter und wandte sich dann wieder zu mir. "Stört mich nicht im geringsten. Außerdem sind wir bis auf Amelia und so 'ne Braunhaarige allein. Und aus dem Mainstream bin ich schon lange draußen". Verwundert warf ich ebenfalls einen Blick über die Schulter und erkannte die Genannte auf Anhieb. Alice.

Mich nach vorne wendend, blickte ich die Straße hoch und ließ die angehaltene Luft zwischen meinen Lippen mit einem 'Plop' entweichen. Ein leerer Pappbecher, der mit 'Coffee to go' bedruckt war lag besudelt auf dem Gehweg und drehte sich unter einzelnen Windböen nach links oder rechts. Mit einem Kicken hatte ich ihn auf die Straße befördert, haarscharf an dem Vorderreifen von dem Rad von Jace vorbei.

"Du weißt schon, dass das keineswegs zum Stopp der Umweltverschmutzung beiträgt", wies nun Jace mich besserwisserisch hin und einem Hauch von Neckerei, doch ich ließ nur ein Schnauben hören, dass soviel, wie 'Du kannst mich mal' hieß.

"Soll ich dich jetzt eigentlich ein Stück mitnehmen oder nicht?", kam er auf seinen eigentlichen Grund zurück, weshalb er überhaupt erst abgebremst hatte und wich einer Straßenlaterne aus, die wie aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht war und sich kurzzeitig zwischen uns drängte.

"Wozu hat Gott dem Menschen wohl Beine gegeben?", murmelte ich vor mich hin und sagte dann lauter, "Freu dich, dass ich nachher überhaupt komme bei deinem verzweifelten Versuch Freunde zu finden". Eigentlich wollte ich ihm damit einen kleinen Stoß geben, doch er lachte nur auf.

"Hat die kleine Killerkatze ihre Krallen ausgefahren?" Empört blickte ich ihn an. Meinem Blick gekonnt stand haltend hielt er sein Schneckentempo neben mir bei und eierte ab und zu etwas auf der Stelle. Schließlich wandte er sich ergebend ab, um nicht das sich nähernde Auto zu rammen.

"Wie du meinst...", sagte er. "Ich muss dann mal. Bis nachher", verabschiedete er sich von mir und trat kräftig in die Pedale. Kurz darauf war er auch um die Ecke verschwunden mitsamt des rhythmischen Klackern seines Rads.

* * * * * * * * * * * * * *

Mit einem dumpfen Laut fiel die Haustür ins Schloss und ich sprang die beiden Stufen, vom lauten Klatschen meiner Sohlen begleitet, runter. Da meine Converse vom gestrigen Regen total durchnässt waren, hatte ich notgedrungen meine braunen Stiefeletten anziehen müssen. Ich wusste garnicht, wie lange ich sie schon nichtmehr getragen hatte. Vielleicht war es ein oder auch schon zwei Jahre her, doch sie passten immer noch.

Mir noch einmal die Adresse vor die Augen rufend, überquerte ich die Straße mit einem flüchtigen Seitenblick und steuerte geradewegs auf die Nummer 14 zu, die sich nach meinem Wissen hinter der nächsten Ecke verbarg. Das kleine Reihenhaus sprang mir sofort ins Auge und erweckte ein vertrautes Gefühl in mir, welches ich aber nicht genauer deuten konnte.

Der kleine Vorgarten war mit nur wenigen Gewächsen bestückt, welche überwiegend zu dem stacheligen Exemplar der Rose gehörte. Mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengegend, das sich mit dem beobachtet zu werden, mischte, überquerte ich den Kieselsteinweg zur Haustür raschen Fußes und betätigte den messingfarbenen Knopf nach einem tiefen Atemzug.

Sofort hörte ich jemanden die Treppe runterpoltern. Ein Schlüssel drehte sich hektisch im Schloss, dann wurde die schwarze Haustür auch schon aufgerissen und ehe ich mich versehen konnte, hatte mir jemand die Arme mit einem kleinen Quieken, welches ich nicht verstanden hatte, um den Hals geworfen und ein Duft von viel zu süßer Seelilie stieg mir in die sich langsam krausende Nase.

Verdutzt blieb ich in meiner Starre und konnte nichts gegen meinen sich langsam öffnenden Mund tun. "Was...", fing ich gerade an zu stottern, als ich abrupt von einer schrillen Stimme unterbrochen wurde. "Caitlin?!", kam es genauso verdutzt von ihr.

Erst jetzt begann ich langsam die Situation zu realisieren und starrte mein Gegenüber entgeistert an. Ihre sonst immer bis zur Hüfte lang getragenen Haare waren bis zur Schulter gestutzt und wurden nach dem Haarwachsgeruch zu schließen, etwas bearbeitet. Ihre rehbraunen Augen wurden mit Concealer, Eyeliner, Mascara und noch vielem mehr betont und ihre Pickel waren nur noch als pulvrige Buckel zu erahnen.

"Alice", murmelte ich eindeutig zu spät und konnte es immer noch nicht fassen. "Was machst du hier?", fuhr ich sie nach einer langen Pause des Stillschweigens an, in der wir uns nur gegenseitig mit unseren Blicken erdolcht hatten. "Ich... ich wohne hier, wie du weißt. Oder hast du selbst das vergessen, Hill", spottete sie erzürnt und bewegte sich, mich nichts aus den Augen lassend, zurück ins Haus, wo sie dann schließlich mit einem lauten Knall die Tür zu schlug.

Immer noch perplex und mit einer Wut, die das ganze dämliche Haus wegsprengen könnte, stapfte ich mit wild entschlossener Miene über die knirschenden Kieselsteine zurück auf den Gehweg. Ich würde nie und nimmer auch nur einen Fuß auf das Grundstück dieser Verräterin setzten.

Das Gefühl zu FliegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt