Kapitel 12

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Vorsichtig, um auch kein Aufmerksamkeit erweckendes Geräusch zu machen, drückte ich das Fenster vom Waschraum auf und ließ es mit einem leisen Quietschen aufschwingen. Der Ersatzschlüssel hatte tatsächlich nicht mehr unter der Fußmatte vor der Haustür gelegen, weshalb ich stark darauf tippte, dass er am Schlüsselbrett im Flur hing. Glücklicherweise hatte Dad nicht bemerkt, dass das Fenster nicht verschlossen war, sondern nur zugezogen, was höchst wahrscheinlich auch daran lag, dass er sich mal wieder hinter seiner Bürotür verschanzte.

Meine Hände auf den unteren Teil Holzrahmen stützend, schwang ich mich auf das Fensterbrett und drehte mich so, dass meine Füße gen Raum zeigten. Mit einem erschreckend lauten Klatschen ließ ich meine Tasche auf den Fliesenboden fallen und hielt einen Moment inne um mögliche Schritte aus dem Flur wahrnehmen zu können, die zu meinem Glück jedoch nicht ertönten.

Erleichtert aufseufzend rutschte ich vom Fensterbrett herunter, angelte mir den Henkel meiner Tasche und wollte sie gerade schultern, als ich ein Räuspern vernahm. Verwundert schnellte ich herum und erblickte Dad, der mich abwartend musterte. Seine Arme hatte er verschränkt und sein Bein wippte zu einem Takt, der für mich nicht hörbar war. Immer noch mit einem fragenden Ausdruck auf dem Gesicht erhob er sich von dem geflochtenen Stuhl und lehnte sich stattdessen an die Waschmaschine.

"Also?", kam es leicht verärgert von ihm, als ich ihn weiterhin stumm anstarrte.

"Ähm... Mir ist nur was aus dem Fenster gefallen", plapperte ich einfach unbeholfen drauf los und verschränkte ebenfalls demonstrativ meine Arme.

"Cat".

"Seit wann sagst du mir, was ich zu unterlassen habe und was nicht? Oder ob ich die Haustür als Eingang zu benutzen habe?", giftete ich ihn an, doch er wartete immer noch auf eine Antwort.

Mit zusammengekniffenen Augen funkelte ich ihn an und dachte überhaupt nicht daran ihm irgendetwas zu erzählen, doch leider dachte auch er nicht daran locker zu lassen, weshalb ich irgendwann nachgab.

"Ich hatte keinen Haustürschlüssel", erzählte ich ihm die halbe Wahrheit und starrte ihn genervt an. "Kann ich jetzt gehen? Ich muss noch Hausaufgaben erledigen".

Das war wohl die größte Lüge, die ich ihm je erzählt hatte und wäre diese Situation nicht so absurd gewesen, hätte ich glatt darüber lachen können. Aber jetzt mal im Ernst, was mischte er sich in mein Leben ein, wenn es ihn bis vorgestern sowieso nur ein Scheißdreck interessiert hatte.

"Mach, was du für richtig hältst", sagte er ausdruckslos, stieß sich von der Waschmaschine ab und drängelte sich an mir vorbei.

Was sollte das den jetzt bitteschön heißen?

* * * * * * * * * * * * * *

Einen genervten Blick auf mein Handy werfend, welches ich gestern, nach der Einmischung von meinem Vater unter meinem Bett ausfindig gemacht hatte, gab ich einen tiefen Seufzer von mir und strich mir eine meiner widerspenstigen Haarsträhnen hinter das Ohr. 15:38. Er war schon acht Minuten zu spät und ich sollte unpünktlich sein.

Auf der Unterlippe herumkauend, ließ ich meinen Blick durch die Umgebung schweifend und fragte mich schon zum gefühlten tausendsten Mal, warum sich Jace so eine abgelegene Stelle ausgesucht hatte, um mir sein 'Geheimnis' zu erzählen, welches mich aber insgeheim brennend interessierte. Es schien wohl doch etwas größeres zu sein als vermutet, oder er machte einfach zu viel Show.

Vor mir breitete sich eine riesige Wiese aus, die von einer zerfallenen Holzhütte und einer gewaltigen Anzahl von meterhohen Brennnesseln geziert war. Daneben begann sich der Wald in die Höhe zu recken und schien schon fast mit den hohen Tannenspitzen die vorüberziehenden Wolken zu streifen.

Unruhig schlenderte ich einige Meter nach vorne, wobei ich mein Handy mit beiden Händen eisern umklammert hielt. Die Steine des Kieswegs gaben ein leises Knirschen von sich und ließen diesem Ort am Arsch der Welt noch abgeschotteter wirken. Unkraut wucherte zwischen dem Splitt und neigte seine dürren Blätter ausgehungert zum spärlichen Sonnenlicht, welches durch die Kolonie an Wolken drang.

Erneut schaute ich auf mein Handy, was nicht zur Besserung meiner ansonst schon genervten Laune beitrug. Wenn er nicht in den nächsten Minuten seinen werten Hintern hierher bekommen würde, könnte er das Referat mit sich alleine planen und vorbereiten und null Drittel meines 'Problems' in sich aufsaugen.

Ein schleifendes Quietschen, welches langsam lauter wurde, ertönte wie auf Kommando hinter mir und ließ mich mit gerunzelter Stirn umdrehen. Jace kam auf einer alten Rostmöhre, die locker noch aus dem 20. Jahrhundert stammen konnte, um die Ecke gebogen. Als er meine Höhe erreicht hatte, warf er das Fahrrad, welches mit lauter Rostflecken überseht war, achtlos ins Gras und kam mit einem entschuldigenden Lächeln auf mich zu.

"Hey", begrüßte er mich. "Sorry, dass ich erst jetzt da bin, aber mein Fahrrad hatte ein Platten, weshalb ich erst einmal ein anders Rad auftreiben musste".

"Hast du das vom Schrottplatz geklaut oder was?", fragte ich ihn spöttisch und betrachtete das blaulackierte Ungetüm.

"Naja... nicht so ganz".

Ich schnaubte verächtlich auf und zog beide Augenbrauen hoch, wobei ich ihn mit einem fragenden Blick betrachtete.

"Was?", kam es verwundert von ihm.

"Es macht von der Fahrtüchtigkeit und der allgemeinen noch erhaltenen Qualität glaube ich keinen großen Unterschied zu deinem anderen Rad. Und wolltest du mir nicht etwas erzählen?", gab ich mit einen verschmitzten Lächeln von mir und bemerkte, wie sich eine Sorgenfalte auf seiner Stirn bildete.

"So schlimm wird es wohl schon nicht sein, außer du würdest mir jetzt erzählen, dass du ein Serienkiller oder ein Vergewaltiger wärst. Denk daran, es muss die hundertprozentige Wahrheit sein", scherzte ich und wackelte mit den Augenbrauen, doch sah ihn mit einem mahnenden Blick an. Wehe er würde irgendeinen Stuss erzählen.

"Nein nein ich lüge nicht. Wie kommst du darauf? Das weißt eigentlich darauf hin, dass du darüber nachgedacht hast. Wir haben eine Abmachung: die komplette Wahrheit. Jedoch musst du mir hoch und heilig versprechen, dass du es niemanden erzählst. Und damit mein ich auch niemanden. Noch nichtmal meine Schwester weiß davon, okay?", wies er mich plötzlich wieder ganz ernst hin.

"Okay. In Ordnung... Ich wüsste zwar nicht, warum ich jemanden davon etwas erzählen soll, aber okay. Soll ich jetzt den Indianerschwur leisten?". Den letzten Satz konnte ich einfach zurückhalten und musste hochkonzentriert ein Kichern unterdrücken.

Ein genervtes Seufzen von Jace machte mir seine Meinung klar und ließ mich mich wieder zusammenreißen. "Also... Ich bin... Okay, ich glaub ich zeig es dir einfach, sonst glaubst du es mir sowieso nicht, aber tu bitte nichts unüberlegtes und denk daran: Niemanden etwas erzählen. Und, wie schon gesagt das Wissen, welches du gleich haben wirst, könnte dich etwas aus der Fassung bringen und dich möglicherweise an dieser Welt zweifeln lassen, jedoch habe ich dich gewarnt".

Sichtlich nervös strich er sich durchs Haar und schritt auf die Wiese, durch den Klee und Löwenzahn, auf das Holzhaus zu. Meine Nerven waren zum zerreißen gespannt, als ich ihm hinterher sah. Was war das für ein Geheimnis, von dem noch nicht einmal seine Schwester etwas wusste und das meine Welt auf den Kopf stellen sollte?

Das Gefühl zu FliegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt