Der Junge, der mich anstarrte / Kapitel 12

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Vier Tage später kam Louisa ganz aufgelöst zu mir gerannt.

„OMG, OMG, OMG! Ich muss dir was erzählen!!“

„Okay, erzähl!!!“ Mael. Mael. Mael. Vielleicht ist es was mit Mael!

„Also. Du weißt ja, heute Morgen hatte ich ja erst um zwölf aus, und du schon um elf, ja?“

Ich nickte eifrig.

„Und ich musste noch kurz was mit Mr. Rotkopf besprechen und bin erst später rausgekommen. Sonst war niemand mehr da. Und als ich so zum Fahrradständer komm, steht da Mael!“ 

„Und dann?!“

„Ich hab mich gefragt was er alleine da will und guck ihn so an und dann musste ich natürlich an dich denken..“ sie lächelte verdächtig. „Und dann ich so: „Estelle ist schon weg.“ Und dann schaut er mich nur so blöd an und geht einfach!!“

In meinem Kopf ratterte es. Das bedeutete, dass, dass, dass...

„Vielleicht hat er ja auf mich gewartet und wollte mit mir reden oder so!!“

„Und hat einfach Probleme beim Stundenpläne lesen!“

„Scheisse.. wie süss, er ist zu blöd um meinen Stundenplan zu lesen“ ich grinste von einer Backe zur anderen und fiel ihr um den Hals.

„ER HAT AUF DICH GEWARTET!!! DAS ist doch mal ein Zeichen!!“ Julia rastete fast aus.

„JAAAAAAA!!“ Ich war einfach nicht fähig, irgendwas Normales zu antworten. In meinem Kopf spielte sich die ganze Zeit folgende Szene ab:

Der verzweifelte Mael wartet und wartet, doch sie kommt einfach nicht. Plötzlich sieht er ihre Freundin aus dem Schulhaus treten, sie steuert direkt auf ihn zu – doch nur um ihren Drahtesel zu holen. Sie schaut ihn an, sieht seine Verwirrung, den Tornado der Gefühle in seinen Augen... und nimmt ihm den letzten Fetzen Hoffnung. „Estelle ist schon weg.“ Damit ist es gesagt. Er kann nicht anders, er dreht sich einfach um und läuft weg. Weg von alledem. Weg von dieser Schule. Weg von ihrer Freundin. Einfach nur Weg. Er rennt und rennt, bis er nicht mehr kann. Keuchend, röchelnd, hält er inne. Schwer atmend, die Hände in die Seiten gestützt steht er einfach so da und starrt auf seine Füsse. Was war dieses Leben schon wert, wenn sie nicht da war? Vielleicht fand er ja eine geeignete Felskante oder irgendeinen Teich..

..Okay. Die Vorstellung ist vielleicht EIN WENIG surreal, aber... okee ich geb’s zu.. ach lasst mich doch!

„Vielleicht wollte er ja echt mit dir reden!“ riss mich Julia aus meinem Kopfkino heraus.

„Ja, eben!! Auf der anderen Seite frag ich mich, was er mir genau gesagt hätte. Komm, ist doch irgendwie unlogisch. Ich meine dannn wären wir beide einfach so dagestanden, einander angestarrt und keiner hätte einen Ton rausgebracht..“

„Trotzdem war er doch irgendwie wegen dir da, oder? Vielleicht hat er sich auch gar nicht so richtig Gedanken darüber gemacht, was er jetzt genau sagt, sondern er wollte dich einfach sehen...“

Dieses ewige "vielleicht" ging mir sowas von auf die Nerven. 

Und dann blamierte ich mich noch mal.

Jess und ich hatten eine Freilektion und holten unsere Fahrräder. Vom Fahrradunterstand aus hatte man eine perfekte Sicht direkt in Herr Fostens Klassenraum hinein. Mael hatte gerade Englisch. Betont langsam schoben wir unsere Räder neben dem Fenster her und schauten hinein. Mael und ich starrten uns an, es war als stünde die Welt für einen Moment still... ja und dann lief ich volle Kanne in Jess’ Hinterreifen hinein. Wie immer versuchte ich die Blamage einfach wegzulachen. Wir liefen weiter ohne uns noch mal umzudrehen.

In der Pause liefen wir mal wieder Runden ums Schulhaus. Wir kamen an den Neuntklässlern vorbei. Mael stach einfach aus allen raus. Vielleicht lag es an seinen Haaren, seinem auffälligen Style oder einfach an der Tatsache, dass ich in ihn verknallt war, aber ich würde ihn aus Tausenden erkennen. Schon als wir noch ein ordentliches Stück entfernt waren, drehte er sich um, und schaute zu mir. Die ganze Zeit über, in der wir uns der Gruppe näherten, als wir sie passierten und bestimmt auch noch als wir ihr schon den Rücken zugedreht hatten, wendete Mael den Blick nicht von mir ab. Wie immer wenn ich merkte, dass mich jemand beobachtete, zupfte ich an meinen Kleidern herum (könnte ja sein, dass irgendwas verrutscht war oder ich eine riesen Schlange Klopapier hinter mir herzog, und er deswegen so guckte) und schaute auf den Boden.

Anscheinend dachte er, nur weil ich ihm nicht direkt in die Augen sah, blieben mir seine Blicke verborgen. Wie blöd er ist, süss.

„Weißt du, er starrt dich so auffällig an, dass man sich schon wieder fragt, ob er es mit Absicht macht.“

„Ich hab keine Ahnung. Mich würd’s so interessieren, was in seinem Kopf vorgeht.“

Julia und ich hatten kaum ein anderes Thema mehr. Die anderen hatten die ganze Maelsache langsam einfach satt, und gaben sich auch nicht gerade übertrieben Mühe, das vor mir zu verbergen. Dazu kam, dass Julia einfach die einzige war, die mich verstand. Zumindest was Mael betraf. Mit Louisa konnte ich zwar auch gut reden, aber sie hatte schon einige Beziehungen hinter sich und konnte möglicherweise gar nicht verstehen, warum man über ein Jahr lang an der gleichen Person hängt. 

Ausserdem waren Julia und ich uns in so vielen Punkten verdammt ähnlich. Wir konnten dieselben Leute nicht ausstehen, waren ungefähr gleich intelligent, hatten einen ähnlichen Musikgeschmack und konnten beide stundenlang über die gleiche Scheisse lachen. Mit ihr wurde es nie langweilig, es gab sogar Momente in denen wir uns über Steine amüsierten. 

Sein Ego und ichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt