Kapitel -7-

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Beim Sport kann ich alles vergessen. Für zwei Stunden bin ich wie weggetreten. Ich vergesse alles um mich herum, alles, was mich bedrückt, rückt in den Hintergrund. In meinen Fokus tritt der Boxsack. Meine Arme und Beine arbeiten wie von selbst. Mein Atem geht schnell und alles was ich höre ist mein Herzschlag. Ich liebe das. 

Es ist Montagabend und nachdem ich heute den ganzen Tag in Kims Laden aushelfen musst, wofür ich aber am Freitag freibekomme, brauche ich genau das. In der Umkleide ziehe ich mich um. Meine langen Haare binde ich zu einem Zopf und schlüpfe in meine Turnschuhe. Dann schnappe ich mir meine Boxhandschuhe und die Trinkflasche.

In der Halle ist heute nicht viel los. Nur wenige trainieren im Ring, einige sind im Kraftraum beschäftigt und nur zwei der zehn Boxsäcke sind besetzt. Ich gehe ans Ende der Halle und lege dort meine Sachen hin. Dann beginne ich das Training, in dem ich einige Runden laufe. Bei meiner fünften Runde bemerke ich, wie sich die Tür der Männerumkleide öffnet und niemand anderes als Daniel heraustritt. Er sieht gut aus in den Sportsachen. Er sieht mich nicht und geht auf den Boxsack neben meinem hin.

Gerade als ich mit meinen sieben Runden fertig geworden bin, will er beginnen auf den Boxsack einzuschlagen. Dann bemerkt er mich, weil ich neben ihm zum Stehen gekommen bin. Er nickt mir zu und beginnt dann mit seinem Training.

Ich lächele. "Hey, Daniel." Noch einmal wirft er mir einen Blick zu, hört aber nicht auf.

Ich verziehe mein Gesicht zu einem Grinsen. Dann schnappe ich mir ebenfalls meine Boxhandschuhe und beginne mit dem Training. Während ich mit meinen Armen auf den Boxsack einschlage, bemerke ich immer wieder Daniels kurze Blicke. Er beobachtet mich, ob ich denn auch alles so mache, wie er es mir gezeigt hat. Aber in den vergangenen vier Jahren bin ich ziemlich gut geworden. Es sieht total heiß aus, wie er trainiert. Seine Muskeln bewegen sich unaufhörlich, der Schweiß tropft im von der Stirn und er hat die Zähne zusammengebissen, was seine Kaumuskeln hervortreten lässt. 

Ich gerate in einen Rausch und schlage immer fester mit Armen und Beinen zu. Ich denke nicht einmal mehr an Daniel, der neben mir zum Anebeißen aussieht. Ich bemerke nicht einmal, dass er mittlerweile aufgehört hat und mir zu sieht. Als ich mit meiner üblichen Trainingseinheit fertig bin, starrt er mich an. Er hebt sein T-shirt an und wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht, dabei kann ich seinen trainierten Bauch erahnen. Ich muss schlucken und streiche ein paar Strähnen zurück, die mir ins Gesicht gefallen sind.

"Du bist gut.", sagt er und bückt sich nach seiner Trinkflasche.

Ich hebe eine Augenbraue und lächle. "Du doch auch."

Er nickt kurz und sieht sich um. Da keine Antwort mehr kommt, gehe ich weiter meinen Trainingsplan durch. Jetzt stehen Bauchmuskeln an, also hänge ich mich kopfüber auf den Boxsack und beginne damit, diese zu trainieren. Daniel sieht amüsiert aus und setzt sich neben mich auf den Boden. Er sieht mir die ganze Zeit über zu.

Als ich fertig bin, lasse ich mich wieder runter rutschen und setze mich gegenüber von ihm hin. "Was ist?"

Er hebt die Augenbrauen an. "Was meinst du?"

"Warum starrst du mich so an?" Ich nehme einige Schlucke aus meiner Wasserflasche und lehne mich an die Wand. 

"Tu ich das?"

Ich runzle die Stirn und stehe wieder auf. "Na, schon irgendwie."

Wieder antwortet er nicht und sieht mir bloß zu, wie ich mit meinen Liegestützen fortfahre. Auch nachdem ich zu den Kniebeugen  übergegangen bin, sieht er mir stumm zu. Am Ende meines Trainings, dehne ich noch die müden Muskeln und bin total erschöpft. 

"Wars wenigstens schön?", frage ich und setze mich wieder gegenüber von ihm hin.

Stumm zieht er fragend eine Augenbraue hoch.

"Mir zuzusehen."

Er lacht leise und schüttelt bloß den Kopf. Dann steht er auf, nimmt seine Trinkflasche und geht zur Umkleide. Mich lässt er eiskalt sitzen. Schnell sammle ich meine Dinge zusammen und laufe ihm hinter her. "Warte.", rufe ich. Doch es ist zu spät, schon ist er in der Männerumkleide verschwunden. Seufzend gehe ich in die Frauenumkleide, um zu duschen und mich umzuziehen. Ich beeile mich extra, weil ich Daniel noch sehen will, bevor er weg ist. 

Gerade als ich wieder in die Halle komme, öffnet sich auch die Tür links daneben und Daniel tritt raus.Sein Haar ist nass und ich kann den Duft von seinem Shampoo riechen. Er sieht mich an und geht stumm weiter. Mann. Ich schultere meine Sporttasche und laufe ihm hinterher. "Daniel, jetzt warte doch mal."

Draußen, vor dem Gebäude bleibt er stehen und sieht sich nach mir um. "Was ist?"

Ich gehe auf mein hellblaues Fahrrad zu, lege die Sporttasche in den Korb und öffne das Zahlenschloß mit wenigen Bewegungen. Dann mache ich wenige Schritte auf ihn zu und bleibe neben ihm stehen. Ich blicke ihn an. "Warum bist du so?"

Im Licht der untergehenden Sonne, strahlen seine Augen heller als sonst. Das dunkle Blau hat mich schon immer fasziniert. Seine Augen haben aber im Gegensatz zu Morgans Augen einen hellen Ring im Inneren der Iris. Nach außen hin werden sie immer dünkler. Er schluckt. "Wie denn?"

Ich lächle leicht. "Magst du mich nicht?"

"Was?" Er runzelt die Stirn. Er beginnt sich in Bewegung zu setzten, ich folge ihm, mein Fahrrad schiebend. Ohne irgendein Wort der Abmachung hat er sich auf den Weg in Richtung meines Hauses bewegt.

"Du verhältst dich so, als würdest du mich hassen."

"Ich hasse dich nicht." Er schaut auf das Meer hinaus, das sich zu unserer rechten erstreckt. "Du hast dich nur ziemlich verändert. Du bist nicht mehr das unschuldige kleine Mädchen... Es ist schwierig für mich, das zu akzeptieren."

"Warum?"

Er hebt eine Augenbraue und wirft mir einen kurzen Blick zu. "Du bist wie eine zweite kleine Schwester für mich. Wir sind zusammen aufgewachsen, da habe ich wohl so etwas wie einen Beschützerinstinkt entwickelt."

Ich bin wie eine Schwester für ihn? Autsch, das tut weh. Trotzdem lache ich leise. "Du glaubst also, ich muss beschützt werden? Wovor?"

Daniel wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. "Vor dir selbst."

"Was? Du spinnst wohl." 

Darauf bekomme ich keine Antwort. Den Rest des Weges schweigen wir. Was hätte ich auch sagen sollen? Vor unserem Gartentor bleiben wir stehen. Ich räuspere mich. "Also dann. Danke fürs Begleiten."

Er nickt und schiebt seine linke Hand in die Hosentasche. "Gute Nacht." Dann dreht er sich um und verschwindet ohne sich nochmals umzudrehen.

"Nacht.", flüstere ich in die Dunkelheit. Ich stelle mein Fahrrad vor der Garage ab und betrete das Haus. Im Wohnzimmer brennt Licht. Dad und Isaac sehen sich ein Footballspiel an, Kim sitzt im großen Ohrensessel und blättert in einem Magazin. Sie trägt eines von Dads alten T-shirts und sieht aus, wie frisch aus der Dusche. Ich schlucke.

"Hey, Sabrina. Schön dich zu sehen.", sagt Kim als sie mich bemerkt.

Ich nicke ihr kurz zu und lasse mich neben Isaac auf das Sofa fallen. "Hey."

Dad sieht kurz vom Fernseher auf. "Wie war's beim Sport?"

"Anstrengend." Müde wie ich bin, lehne ich meinen Kopf gegen Isaacs Schulter. Er ist jetzt schon größer als ich. Mein kleiner Bruder wirft mir einen misstrauischen Blick zu, lächelt allerdings, als ich ihm durch das helle Haar wuschle. 

Irgendwann später verziehe ich mich in mein Zimmer. Ich telefoniere eine Weile mit Morgan. Ich erzähle ihr von Kims unsäglichen Verhalten und davon, dass ich die Arbeit im Laden nicht mal so schlimm finde. Das zufällige Treffen mit Daniel lasse ich aus. Es kommt mir blöd vor, mit ihr darüber zu reden, warum genau er sich mir gegenüber so verhält.

Später am Abend blicke ich aufs Meer hinaus. Es hat zugezogen, die Wolken hängen tief über dem Meer. Es regnet ziemlich und die Wellen krachen ziemlich heftig gegen das Festland. Es gibt Augenblicke, da kann ich nicht anders als stundenlang auf das Meer zublicken. Die wogenden Wellen mit ihren Schaumkronen krachen gegen dunkles Gestein oder fließen langsam auf goldenen Sand. Das Wasser schimmert in prächtigen Grün und Blautönen. Und dann dieses Geräusch... Das Rauschen der Wellen, das ich so liebe. Der Ozean hat viele Facetten. Sie reichen von stürmisch bis hin zu ruhig, ja vielleicht schon friedlich. Das Meer, das bewegende Wasser, es ist unberechenbar. Es ist der Inbegriff von Freiheit für mich. 

Unser letzter SommerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt