Vorbote

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Kapitel 9: Vorbote

Anna fühlte sich erschöpft.

Erschöpft von den Geschehnissen in der Nacht zuvor, dem Streit am Morgen und den Gedanken, die einfach nicht aufhören wollten. Noch schlimmer machte es Fíli, der mit ihr am Ende der Gruppe ritt. Seit den wütenden Worten seines Bruders war er in ein Schweigen gefallen, das sie sich nicht traute zu brechen, aus Angst, er könne ihr die Schuld offen zuschreiben. Und er hätte recht. Daran trug allein sie Schuld und es bestätigte nur, wie gedankenlos sie handelte. Ihre Gründe, nicht mit Kíli zu reiten, waren idiotisch. Was machte es schon, ob sie mit ihm ritt. Wenn sie an die Worte Gandalfs dachte, war Ihre Zeit in Mittelerde begrenzt, weil sie sich dazu entschlossen hatte zu helfen. Die Reise war gefährlich, schwierig und wahrscheinlich sogar tödlich. Warum also nahm sie die Chance nicht wahr, wenigstens etwas von der begrenzten Zeit zu genießen? Besonders bevor es wirklich losging. Die Trolle, die Hetzjagd, der absolute Horror in den Bergen. Ob sie die Goblins überlebte? Anna versuchte die Panik zu unterdrücken, die sie kalt packte und ihr einen Schauer über dem Rücken jagte. Das lag noch in der Zukunft. Jetzt drohte soweit keine Gefahr, ausgenommen der gestrigen Flut und dem beinahe Tod Kílis. Warum gab es überhaupt eine Flut? Wäre sie auch gekommen, wenn sie nicht dabei gewesen wäre? Und wenn doch, was wäre aus Kíli geworden? Wie konnte ihre bloße Anwesenheit die Geschichte so verändern? Das war der Gedanke, der sie gestern nicht schlafen ließ. Wenn die Geschichte sich schon alleine deshalb neu schrieb, wie konnte sie Dinge verhindern, von denen sie nichts wusste? Es war ihr einziger Trumpf: Das Wissen um die Zukunft. War ihr das genommen, was blieb noch? Die Möglichkeit es selbst in die Hand zu nehmen. Versuchen sich nicht auf das zu verlassen was sie wusste, sondern konnte. Wenn ihr Auftauchen allein die Welt um sie herum veränderte, standen die Chancen gut die Zwerge vor ihrem Schicksal zu bewahren. Es war beängstigend und befreiend zugleich. Alles was sie tun musste war am Leben zu bleiben. Das war sicher einfacher gedacht als getan, da sie der Faktor war, der alles neu und unberechenbar machte, der alles auf dem Kopf stellte was sie kannte. Es war nach wie vor ein Kampf. Nicht nur gegen das eigentliche Schicksal, sondern um ihr eigenes Überleben. Der Tod jagte ihr noch immer eine gewaltige Angst ein, auch wenn sie wusste, es sollte nicht das absolute Ende sein. Doch wohin würde sie gehen? Sie stellte es sich wie ein großes schwarzes Loch vor, das sie verschluckte und irgendwo im Nichts ausspuckte, wo sie ohne Ziel umherirrte. Und was würde aus den Zwergen werden? Was würde aus Kíli werden? Die Wahrheit war, dass sie sich mehr um ihn sorgte als um Fíli. Es war selbstsüchtig. Nicht gerecht. Falsch. Dennoch würde sie auch ohne zu zögern für Fíli ihr Leben geben – selbst für Thorin selbst und sie wusste nicht einmal warum. War Thorin nichts als feindlich ihr gegenüber. Behandelte sie wie er sie ansah. Kalt, hart. Er ließ keine Gelegenheit aus ihr zu zeigen, was er von ihr hielt. Trotz all dem war er der Zwerg, mit dem sie als Kind in den Schlaf gelesen wurde. Thorin hatte so viel Recht zu leben, wie Fíli und Kíli. Und sie war einzig hier um das sicherzustellen.

Warum also nicht mit Kíli reiten? Es hätte niemanden verletzt. Ganz selbstverständlich hätte sie sich mit einem heimlichen Lächeln an seinen Rücken schmiegen können, ohne das sich auch nur einer dazu etwas dachte. Es wäre perfekt gewesen. Stattdessen war es nun so, dass Kíli sie mied und auch seinen Bruder, den sie damit ungewollt ins Kreuzfeuer warf. Anna ließ ihren Kopf hängen, während ihr Griff an Fílis braunen Mantel nachließ. Nein, so einfach war all das nicht. Es wäre nicht perfekt. Ihre unkontrollierbaren Gefühle für Kíli warfen alles aus der Bahn. Wenn sie schwach wurde, gab es kein Zurück mehr. Gab es denn noch ein Zurück? Oder hätte sie es überhaupt verhindern können? Ein schwaches Lächeln legte sich auf ihre Lippen als ihr eines unwiderruflich bewusst wurde. Nein, sie hätte es nicht verhindern können. An jenem Abend, vor einigen Wochen in Bilbos Haus, nahm der Wahnsinn seinen Anfang. Kíli sah von der ersten Sekunde ihre Anwesenheit nicht als großes, unnötiges Problem an. Eine Menschenfrau, der man misstrauen müsste, wie es der Rest seiner Leute tat. Er hatte sich dagegen gestellt, sie unter seinem Schutz genommen, obwohl er sie erst wenige Momente kannte. Es war beeindruckend gewesen, wie er sich seinem Onkel stellte, dafür sogar ausgeschimpft wurde. Seit jenem Tag wusste sie, das sie sich auf ihn verlassen konnte. Und auch wenn sie ihm noch nicht viel über sich verraten hatte, machte es ihm nichts aus. Stattdessen erzählte er offen und mit einem Glitzern in den Augen von seinem Heim, seinen Reisen, seinen Entdeckungen. Sie lernte so Mittelerde ganz neu kennen und sie ertappte sich oft selbst dabei, wie sie sich wünschte all das gemeinsam mit ihm erlebt zu haben. Ab diesem Moment wusste sie, das etwas anders war. Sich etwas gewandelt hatte. Und er machte es unmöglich für sie auf Abstand zu gehen, war er irgendwie immer ein Teil ihres Tages und seit letzter Zeit fast immer an ihrer Seite. Kíli gab ihr von Anfang an das Gefühl etwas wert zu sein. Nie drängte er sie zu Fragen ihrer Vergangenheit, die er so offensichtlich stellen wollte. Er zeigte ihr Verständnis, bot ihr offen einen Platz bei sich an und fügte sie so mit in die Zwergengemeinschaft ein, sodass sie mittlerweile neben Fíli, auch Bofur und Ori zu ihren Freunden zählen konnte. Kíli machte diese Reise erst zu dem, was sie war. Ohne ihn, würde sie sich allein, zurückgewiesen und ungewollt fühlen. Eine Belastung, die niemand tragen wollte, ganz so wie es Bilbo erging, auch wenn sie immer ihr Bestes tat ihn aufzumuntern. Wie konnte sie dann gerade ihn zurückweisen? So verletzen und das Gefühl geben nicht gewollt zu werden? Sie verdankte ihm so unendlich viel. Es war an der Zeit, dass sie sich auf das einzig Wichtige konzentrierte. Alles was zählte war ihre Aufgabe und sie war bereit dafür alles zu tun, was in ihrer Macht stand. Vielleicht mehr denn je und wäre es das Letzte was sie tat. Bei diesem Gedanken blickte sie in den blauen, klaren Himmel über sie. Wer hätte je gedacht, das sie so wahnsinnig sein würde und mit Bogen und Schwert in die Schlacht zog, damit sie Zwerge rettete, die reine Fiktion in ihrer Welt waren. Das hätte Magnus gefallen und schließlich war er es immer gewesen, der ihr sagte: „Jeder Mensch braucht eine Aufgabe." Selbst wenn es im nächsten Moment hieß, ihre Aufgabe bestünde darin wieder Wäsche zu waschen. Mit einem breiten Lächeln schloss sie ihre Augen und genoss die leichte Brise, die den schweren Duft vom nahen Sommer trug. Niemand konnte sie mehr von ihrer gefassten Aufgabe abbringen, selbst ein Thorin mit seiner unwiderstehlichen Art nicht. Anna war kein Feigling und das würde sie allen beweisen.

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