"Leben ohne Staat, ohne Regeln?"
Skeptisch sehe ich Kelly an, diese zuckt nur mit den Schultern."Und wieso willst du das?" Hake ich nach, als von ihr nach einigen Sekunden immer noch keine Antwort bekommen habe. Kelly aber sagt noch immer nichts, beginnt damit den Kreis zu schattieren. Irgendwann fragt sie dann leise: "Wieso bist du hier?"
Überrascht sehe ich sie an, was hat das denn jetzt damit zu tun? Verwirrt frage ich: "Häh? Wie meinst du das? Also wieso ich bei dir bin, oder was?" Sie seufzt leise, so, als wäre ich ein begriffsstutziges Kleinkind, was mich in diesem Augenblick irgendwie aufregt. Ich kann ja nichts dafür, wenn sie mir nicht sagt, was sie will! Zumal das ja nur eine Frage gewesen ist.
Also kein Grund um so zu tun als wäre ich total dumm..."Also?" Frage ich schließlich dezent angepisst, aber als ich Kellys Blick sehe, ist jeder Funken Genervtheit sofort verschwunden und weicht einem angespannten und etwas beängstigendem Gefühl, denn ich habe Kelly noch nie so Ernst, fast schon traurig, gucken sehen.
"Ich weiß nicht wie es mit dir steht, aber ich bin hier, weil ich muss. Also... Letztendlich mache ich alles, weil ich muss. Und darum Anarchismus. Wenn ich etwas tue, dann soll es freiwillig sein. Nicht weil es mir jemand sagt, sondern weil ich es will. Man sollte nur Dinge tun, die man wirklich tun will und hinter denen man steht. Sonst entfremdet man sich irgendwann von sich selber und glücklich sein, dass geht dann nicht mehr. Und darum glaube ich nicht, dass mich unser jetziges System glücklich machen kann."Ich starre Kelly an, dieses unglaublich fröhliche und aufgedrehte Mädchen, welches einen Fick auf alles und jeden gibt und nie lange über etwas nachzudenken scheint, diese Kelly sagt plötzlich so etwas?
Ich meine... klar. Tiefgründig hin oder her, aber seit wann macht sie sich denn über so etwas Gedanken?Kelly blinzelt, sagt nichts, sieht mich nur an.
Irgendwann fragt sie leise: "Was sagst du? Was denkst du?"
Zögerlich blicke ich sie an, sehe in ihre unfassbar blauen Augen und frage mich, wie es wohl in ihrem Inneren aussieht.
"Ich verstehe dich nicht." Antworte ich schließlich. Es ist eine Nichtssagende Antwort, aber ich könnte auch nichts besseres dazu sagen. Neben dieser Aussage komme ich mit mir einem Mal so dumm vor, so ungebildet."Ich verstehe mich auch nicht."
Flüstert Kelly irgendwann, ihr Blick liegt noch immer auf mir.
Schweigend.***
"Hey, Vanessa... Was ich noch sagen wollte..." Langsam drehe ich mich von meinen Schließfach zu Kelly, mustere sie abwartend. "Ja? Was ist los?"
"Also... Ich wollte nur sagen, dass du mich heute nicht für voll nehmen kannst." Sie stockt, ich nicke fragend, im nächsten Moment fügt sie noch hinzu: "Ich habe mich gestern mit meinen Eltern gestritten... Bin darum noch etwas durch den Wind. Aber ja... Normalerweise laber ich nicht so viel Depri-Kack."
Zwar lacht Kelly, aber jetzt wo ich darauf achte, fällt mir auf wie beschissen sie aussieht.
Also nicht beschissen in diesem Sinne, sie ist genau so hübsch wie sonst auch, aber sie sieht nicht glücklich sondern eher traurig, ausgelaugt und einfach müde aus. Etwas besorgt nicke ich."Okay... Aber Kelly?"
"Ja?"
"Wenn irgendwas ist kannst du immer mit mir reden, ja?"
"Ja."
Sie nicke schnell, ehe sie mit einem "Okay, wollte es nur gesagt haben. Man sieht sich!" los geht und kurz darauf in der Masse aus Schülern verschwindet. Zurück lässt sie ein kleines verwirrtes Vanessa, welches in diesem Moment mit ihrem Verhalten ziemlich überfordert ist.
Langsam mache auch ich mich nun auf den Weg zu meinem Bus, wobei ich mir den Kopf über Kelly zerbreche.
Irgendwie würde ich gerne wissen, um was es in dem Streit zwischen ihr und ihren Eltern ging, und ob es etwas mit ihrem Auftauchen im Unterricht heute morgen zu tun hatte. Wahrscheinlich, wer glaubt schon an Zufälle?
Aber obwohl ich es gern wissen würde, werde ich sie vermutlich nicht danach fragen. Das würde wahrscheinlich voll aufdringlich und nervig rüber kommen, und wenn sie Zuhause momentan Stress hat, würde es ihr vermutlich nicht helfen, wenn ich sie darüber ausfragen. Zumal ich ihr ja angeboten habe, darüber zu reden, und wenn sie Hilfe oder so bräuchte... Dann würde sie sich melden, glaube ich.So sitze ich also im Bus und sehe aus dem Fenster, beobachte, wie die Bäume und Häuser vorbeiziehen. Mir fällt auf, dass langsam alles weihnachtlich wird, in den Läden hängen inzwischen Werbungen mit dem Weihnachtsmann, in den Fenstern stehen Lichterkränze und hängen Sterne.
Es sind Momente wie diese, in denen mir klar wird, wie sehr ich Berlin eigentlich liebe. Berlin, die Stadt, in der alles möglich und erreichbar ist.
Wobei Berlin natürlich nicht nur schöne Orte hat, so soll es hier tatsächlich 'No-Go-Areas' geben, laut einigen Fernsehsendungen.
Wobei ich dem nicht zustimmen würde, der Görlitzer Park zum Beispiel ist eben nicht nur ein Ort zum Drogendealen, man kann sich dort auch gut mit Freunden treffen, lernen, gemeinsam Spaß haben...
Irgendwie finde ich es schade, dass man, wenn man im Fernsehen mal was über Berlin sieht, immer eher über die negativen Dinge berichtet. Was halt schon ganz schön einseitig ist, wenn ich bedenke, wie vielseitig und multikulturell diese Stadt ist.
Und wow, das waren mal wieder einige ziemlich großen Gedankensprünge in ziemlich kurzer Zeit, stelle ich ein wenig belustigt fest, während ich an meiner Haltestelle die Stufen des Busses hinunter steige und in Richtung von meinem Haus laufe. Auf mein Zuhause ist inzwischen Weihnachtlich geschmückt, an der kleinen Tanne im Vorgarten hängen rote Plastikkugeln, in dem Fenster zu meinem Zimmer ein Stern und in dem Fenster von welchem man in unsere Küche blicken könnte steht ein Lichterkranz, welcher sanftes Licht ausstrahlt.Beim Gedanken an die kommende Weihnachtszeit stiehlt sich mir ein leichtes Lächeln ins Gesicht, während ich die Tür aufschließen, meine Tasche in mein Zimmer bringe und leise anfange, einige Weihnachtslieder zu summen.
'...zwischen Mehl und Milch, macht so mancher Knilch eine riesengroße Kleckerei, in der Weihnachtsbäckerei, in der Weihnachtsbäckerei...'
Dabei bekomme ich plötzlich totale Lust darauf, Plätzchen zu backen. Am besten mit meinen Bruder zusammen, wie damals, als wir noch jünger gewesen sind.
Darum betrete ich einige Sekunden später, noch immer leise summend, das Zimmer von Chris, um ihn zu überreden mit mir zu backen, was mir nach einigem Murren seinerseits sogar gelingt.________
Spürt man meine Heimat und Weihnachts Nostalgie?
Ich habe gestern sogar ein Gedicht darüber geschrieben :D
An alle von euch, die Zuhause die Weihnachtszeit beginnen können, ich beneide euch :(
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