Mitternacht

795 58 60
                                    

Er sah sie zum ersten Mal, als die ersten Schneeflocken in dieser Dezembernacht durch die Luft wirbelten. Kleine Eiskristalle hatten sich in ihren braunen Haaren verfangen, ihre Wangen waren durch die Kälte gerötet und ihre Hände hatte sie tief in die Taschen ihres dunklen Mantels geschoben.

Sie stand nur wenige Schritte von ihm entfernt. Roter Lippenstift glänzte auf ihren zarten Lippen und die Windböe, die durch die Bahnhofshalle wehte, blies ihr einzelne Haarsträhnen ins Gesicht, die sie sich sogleich mit ihren behandschuhten Fingern hinter die Ohren strich. Ihr Blick schweifte durch das alte Gebäude, sie beobachtete die große Uhr, die von der hohen Decke herabhing und sich leicht im Wind bewegte. Die schwere Eisentüre schloss sich mit einem lauten Krachen und sie zuckte erschrocken zusammen. Das laute Stimmengewirr verstummte für einen Augenblick lang und ihre Augen sahen in die Richtung, in der er sich befand, doch noch hatte sie ihn nicht bemerkt.

Die Stimmen der Menschen wurden wieder lauter, Rufe ertönten und die schwere Eisentüre schwang ein weiteres Mal auf. Ein älterer Mann schob sich durch die Menschenmasse hindurch, er trat an ihr vorbei, stieß sie leicht mit der Schulter an und sie wich augenblicklich einige Schritte zurück. Ihre Schulter stieß gegen die kahle Wand hinter ihr, sie senkte ihren Blick und als eine laute Stimme durch die Bahnhofshalle hallte, reckte sie ihren Kopf in die Höhe.

„Der Schneesturm ist viel zu gefährlich. Wir können keine Züge fahren lassen, bevor der Sturm nicht vorbei ist."

Protestierende Rufe übertönten die Stimme des Mannes.

„Der nächste Zug nach Wembley fährt in vier Stunden. Alle anderen Züge, sollten gegen halb vier abfahrbereit sein."

Die Stimme verklang in den lauten Rufen der Menschen. Einige schoben sich nach draußen in die Kälte, um sich in die Fänge des Schneesturmes zu begeben, der noch etliche Stunden über ganz England toben sollte.

Die junge Frau wandte ihren Blick ab, sie sah erneut auf ihre Schuhe hinab und machte keine Anstalten sich von ihrem Platz fortzubewegen, während alle anderen um sie herum eilig auf den Ausgang der Bahnhofshalle zustrebten.

Und er beobachtete sie. Eine ganze Weile lang.

Sie kaute auf ihrer dunkelroten Unterlippe, ihr Blick schweifte unruhig durch die Bahnhofshalle, die sich allmählich leerte und wie sie da so stand, noch immer am selben Ort, wie wenige Minuten zuvor, schien es, als würde sie sich nicht trauen auch nur einen weiteren Schritt zu machen. Sie sah nach oben zu der Uhr, die von der Decke herabbaumelte und beinahe fürchtete er, sie könnte unter ihrem Blick von der Decke hinabfallen und ein riesiges Loch in den Boden reißen.

Doch die Uhr baumelte weiterhin von der Decke herab und er wandte seinen Blick ab, ließ seine Augen durch die Bahnhofshalle wandern und dann sah er wieder zu ihr. Die Eiskristalle in ihren Haaren waren längst geschmolzen, sie hatte die Knöpfe ihres Mantels geöffnet, denn mit ihrem Pullover und dem dicken Wintermantel, wurde ihr allmählich viel zu warm. Sie strich sich die dünnen Handschuhe von den Fingern, schob sie in die Taschen ihres Mantels und ließ ihren Blick dabei durch die Halle wandern.

Und dann bemerkte sie ihn.

Den jungen Mann mit den braunen, wuscheligen Haaren und der schwarzen Mütze, die er auf dem Kopf trug. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, seine Finger trommelten auf sein Knie und seine schmalen Augen wanderten durch die alte Bahnhofshalle. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und saß auf dem kalten Fußboden, während sein Rücken gegen die kahle Wand lehnte.

Und sie beobachtete ihn. Eine ganze Weile lang.

Ein schwarzes Tattoo blitzte an seinen Fingern auf, als er die Hand leicht drehte. Er legte die Stirn in Falten, presste die Lippen leicht aufeinander und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Sie beobachtete ihn, denn er hatte etwas an sich, dass ihren Blick beinahe gefangen hielt. Sie wusste nicht was es war, doch sie wusste, dass die dunklen Schatten unter seinen Augen, die aufeinandergepressten Lippen und der undefinierbare Blick, mit dem er durch die Halle sah, ein wenig unheimlich auf sie wirkten. Und doch schaffte sie es nicht, den Blick abzuwenden.

Erst als eine weitere Windböe in die alte Halle wehte, drehte sie den Kopf weg und kaum spürte er ihren Blick nicht mehr auf seiner Haut, da betrachtete er sie unverhohlen. Ihre Wangen waren noch immer gerötet, ihre Augen lagen nun unter dichten schwarzen Wimpern verborgen und in ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den er nicht deuten konnte. Sie war ein wenig merkwürdig, wie sie da so mit gesenktem Kopf stand und sich kaum bewegte, doch gleichzeitig hatte sie auch etwas an sich, dass es ihm beinahe unmöglich machte den Blick abzuwenden.

Einige Augenblicke später löste er seinen Blick jedoch von ihr und so standen die beiden stumm einige Schritte voneinander entfernt, starrten in die Menschenmasse und waren beide mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Seine Finger zogen an den losen Fäden seiner Jeans, er sah zu der großen Uhr an der Decke und ihr Blick fiel erneut auf ihn. Sie ließ ihre Augen über sein Gesicht wandern, doch dann stand er auf. Er klopfte sich den Schmutz von der dunklen Hose und schob sich durch die Menschen hindurch. Er hielt den Blick gesenkt und plötzlich stand er neben ihr. Sein Geruch stieg ihr in die Nase und sein Arm berührte für den Bruchteil einer Sekunde ihren Arm. Sie hielt die Luft an, ihr Herz schlug unheimlich schnell in ihrer Brust und sie sah auf ihre Schuhe hinab.

Dann nahm sie eine hauchzarte Berührung an ihrem Arm wahr, doch sie konnte nicht sagen, ob er es gewesen war, der sie berührt hatte, oder ob es der Windhauch gewesen war, der nun durch die geöffnete Türe in die Bahnhofshalle wehte.

Als sie das nächste Mal den Kopf hob, war er allerdings verschwunden.

• • •

Ich starte hiermit mit einer neuen Geschichte ins neue Jahr. Ich wünsche euch einen schönen Start in das Jahr 2018 und hoffe ihr seid dabei, wenn es im Januar mit dieser Geschichte weitergeht.

Alles Liebe, Michelle

Die Unendlichkeit einer Nacht | l.tWo Geschichten leben. Entdecke jetzt