Halb Eins

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Ein kühler Windhauch blies um ihre Nase als die schwere Eisentüre der Bahnhofshalle aufschwang. Die alten Scharniere quietschten und die nächste Windböe, die in das Innere des alten Gebäudes strömte, ließ die große Bahnhofsuhr, die von der Decke herabhing, bedrohlich wackeln.

Sie legte den Kopf in den Nacken, sah nach oben an die hohe Decke und musterte das Gehäuse der Uhr. Sie kniff die Augen ein wenig zusammen, beugte sich nach vorne und dann erkannte sie eine Jahreszahl, die in das dunkle Gehäuse der Uhr eingraviert worden war. Doch sie saß zu weit weg, um die Ziffern erkennen zu können und so lehnte sie sich einfach wieder an die Wand zurück.

Mittlerweile hatte sie sich auf den Boden gesetzt, etwas weiter hinten an der Stelle, an der er zuvor gesessen hatte. Er war noch immer nicht zurückgekehrt, vermutlich war er wie alle anderen aus der alten Halle geflüchtet, doch das war verrückt, denn der Sturm tobte unaufhörlich über die Stadt und draußen war es war viel zu gefährlich.

Die alte Bahnhofshalle war vielleicht auch nicht der sicherste Ort, um sich vor einem Schneesturm zu schützen, aber immerhin war sie vor der Kälte geborgen. Und doch fürchtete sie sich, denn die Bahnhofshalle hatte sich ordentlich geleert und die Stille, die im Inneren herrschte, wurde in regelmäßigen Abständen von unheimlichen Geräuschen erfüllt. Lautes Hupen drang an ihr Ohr und immer wieder schlug der Wind kräftig gegen das alte Gebäude und ließ es ächzen.

Sie legte den Kopf in den Nacken, spürte dabei die Kälte der Wand an ihrem Hinterkopf und sah nach oben zu den dünnen Fenstern, die sich an den Wänden entlang zu einer Linie zogen. Draußen war es stockfinster, die Fenster klirrten leise und sie fürchtete sich davor, dass die dünnen Glasscheiben unter dem Druck des Schneesturmes nachgeben könnten. Wenn die Fensterscheiben brachen, dann würde sie auch in der Bahnhofshalle nicht mehr sicher vor dem Unwetter sein, denn ganz gewiss würde der Sturm einfach durch die Fenster hereinziehen.

Sie zog ihre Beine dicht an ihren Körper und während irgendwo im alten Gebäude ein Klirren zu hören war, wünschte sie sich nichts anderes, als in diesem Moment in ihrer kleinen Wohnung in Wembley zu sein und mit einer heißen Tasse Tee auf ihrem Sofa zu sitzen. Die Fenster ihrer Wohnung waren so dicht, dass sie die Sturmgeräusche nicht hören würde und in ihrer Wohnung würde sie sich ganz bestimmt nicht so sehr fürchten, wie in der alten Bahnhofshalle. Denn wenn sie zuhause wäre, könnte sie sich unter eine dicke Wolldecke kuscheln und das Radio so laut aufdrehen, dass sie all die unheimlichen Geräusche nicht hören würde.

Ein leises Seufzen kam über ihre Lippen und als die nächste Windböe die schwere Türe zum Quietschen brachte, schoss ihr ein Gedanke in den Kopf. Sie zog ihre Handtasche auf den Schoß und kramte mit kalten Fingern darin herum, bis sich ihre Hand um einen dünnen Gegenstand schlang. Ihre Finger zogen an dem weißen Kabel ihrer Kopfhörer und wenige Augenblicke später, schob sie sich die Kopfhörer in die Ohren und startete eine ihrer vielen Playlists, die sie jedes Mal hörte, wenn sie die lange Strecke von Wembley hierher fuhr. Ihr Finger drückte auf den Kopf, der die Musik lauter stellte und schließlich nahm sie nichts anderes mehr wahr, als die Musik, die in ihren Ohren klang.

Bis ihr Zug in vier Stunden fahren würde, würde sie die Zeit so überbrücken können, denn die Musik lenkte sie ab, allerdings half sie nicht gegen die Angst, die sie noch immer verspürte, weil sie ganz alleine in der Bahnhofshalle saß.

Sie starrte auf das Smartphone in ihren Händen, betrachtete das Bild des Musikstückes, das in ihren Ohren klang, bis es schließlich vor ihren Augen verschwamm. Sie musste blinzeln, fuhr sich mit der Hand über die Augen und erst nachdem die Töne des dritten Liedes verklungen waren, hatte die Musik sie so sehr beruhigt, dass sie sich sicher genug fühlte, um ihren Kopf zu heben.

Doch kaum hob sie ihren Blick, da überkam sie der nächste Schreck. Ihr Herz schlug mit einem Mal unheimlich schnell in ihrer Brust und ihr Atem stockte für einen Augenblick lang. Er stand plötzlich vor ihr, wie aus dem Nichts und sah mit schiefgelegtem Kopf auf sie herab. Eilig senkte sie ihren Blick, starrte erneut auf das Handy in ihrer Hand, während die Musik noch immer laut in ihren Ohren hallte. Sie nahm eine Berührung an ihrem Arm wahr und als sie den Kopf abermals hob, kniete der Fremde vor ihr.

Seine Lippen bewegten sich, doch sie verstand kein Wort und erst als er auf seine Ohren deutete, zog sie am Kabel der Kopfhörer und stoppte die Musik. Ein kleines Lächeln lag um seine Lippen und sie schluckte.

„Deine Musik ist ganz schön laut. Was hörst du da? Mozart?"

Seine Stimme drang leise an ihr Ohr, denn das Heulen des Windes übertönte seine Worte beinahe. Sie blieb still und presste ihre Lippen fest aufeinander, während seine Mundwinkel leicht zuckten.

Ein lautes Klirren war zu hören und augenblicklich spannte er sich an. Er hob den Blick und als er sie das nächste Mal ansah, lag ein ernster Ausdruck auf seinem Gesicht.

„Wir müssen hier weg. In der Halle ist es viel zu gefährlich."

Er ließ den Blick schweifen. Die Uhr, die von der Decke herabbaumelte, bewegte sich leicht und er erhob sich. Er machte einen Schritt nach rechts, wollte schon loslaufen, doch als er bemerkte, dass sie ihm nicht folgte, blieb er stehen und sah zu ihr.

„Komm mit, wir müssen hier weg, bevor uns etwas um die Ohren fliegt."

Sie zögerte und als sie ihm schließlich folgte, machte sich ein ungutes Gefühl in ihrem Bauch breit. Sie kannte den fremden Mann nicht, sie wusste weder seinen Namen, noch wusste sie, wo er sie hinbrachte. Es war keine gute Idee gewesen, mit ihm zu gehen, doch während sie ihm folgte, löste sich ein kleiner Teil ihrer Angst, denn sie war nicht mehr alleine.

Er führte sie eine Treppe hinab, ging mit ihr einen dunklen Gang entlang und sie wunderte sich darüber, dass er so zielstrebig durch das alte Gebäude lief. Stimmen drangen an ihr Ohr, er öffnete eine Türe und schließlich fand sie sich in einem kleinen Raum wider. Es war kalt, aber doch strömte ihr ein Schweißgeruch entgegen. Es stank nach Rauch und einem undefinierbaren Geruch und am liebsten hätte sie sich aus dem kleinen Raum geschlichen, doch er legte seine Hand auf ihre Schulter und schob sie sanft in die hintere Ecke des Raumes.

Sie ließen sich auf dem kühlen Boden nieder, er saß dicht bei ihr und augenblicklich rutschte sie ein Stück von ihm weg. Sie wollte ihm nicht so nahe sein, denn er war ihr noch immer fremd. Er beobachtete sie, seine Mundwinkel zuckten leicht in die Höhe und sie hielt ihren Blick gesenkt, als sie seine Augen auf ihrer Haut spürte. Sie starrte auf ihre Hände, legte ihr Handgelenk ein wenig frei, um auf die kleine Armbanduhr zu sehen, die sie an ihrem Arm trug und im selben Augenblick, in dem die Zeiger ihrer Uhr 0:25 zeigten, drang ein lautes Klirren an ihr Ohr.

Sie zuckte erschrocken zusammen und der Fremde neben ihr richtete sich leicht auf. Ihr Atem beschleunigte sich, jemand rief etwas unverständliches und die Gedanken in ihrem Kopf rasten unaufhörlich, während sie sich erhob.

„Wo willst du hin?"

Eine starke Hand schlang sich um ihren Arm und hielt sie davon ab, die Flucht zu ergreifen.
„Nach draußen, ich fahre mit einem Taxi nach Hause."

„Bist du verrückt?"

Plötzlich stand er neben ihr, er hatte die Augen weit aufgerissen und starrte sie an. Sie musste ihren Kopf ein wenig in den Nacken legen um sein Gesicht zu sehen. Er war beinahe zwei Köpfe größer als sie.

„Du kannst jetzt nicht nach draußen gehen, es ist viel zu gefährlich und bei diesem Sturm fährt kein Taxi. Du bist sicherer, wenn du hierbleibst."

Er ließ ihre Hand los, musterte ihr blasses Gesicht und dann glitt er zurück auf den Boden. Sie beobachtete ihn, ihr Herz klopfte schnell in ihrer Brust und langsam ließ sie den Blick schweifen. Sie waren nicht die einzigen, die in diesem Raum Schutz vor dem Sturm suchten.

Vereinzelt saßen Menschen auf dem Boden, starrten stumm in den Raum und sie war sich sicher, dass sie nicht die einzige war, die in diesen Moment lieber irgendwo anders wäre. Nicht draußen, denn dort war es wirklich zu gefährlich, aber auch nicht hier, in der alten Bahnhofshalle.

Ihr Blick fiel auf ihn zurück.

„Vertrau mir, dir wird nichts passieren."

Sie atmete tief durch, Luft strömte in ihre Lungen und dann ließ sie sich neben ihm auf dem Boden nieder. Er sah zu ihr, ein kleines Lächeln lag auf seinen Lippen und direkt spürte sie, wie ihre Wangen sich röteten. Sie sah auf ihr Handgelenk hinab, betrachtete erneut ihre Armbanduhr und dann war es halb Eins.

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Die Widmung geht an screamrave. 

01. Januar 2018

Die Unendlichkeit einer Nacht | l.tWo Geschichten leben. Entdecke jetzt