Er schob seine kalten Finger tief in die Taschen seiner Winterjacke, um sich ein wenig zu wärmen. Seine Hände waren durch die Kälte bereits ein wenig klamm geworden, denn durch den Sturm, hatte sich die alte Bahnhofshalle ordentlich abgekühlt und im Keller waren die Temperaturen ohnehin immer sehr niedrig.
Er lehnte den Kopf gegen die kalte Wand, gegen die er mit dem Rücken lehnte und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er betrachtete die anderen Menschen, musterte die verschiedenen Gesichter und schließlich fiel sein Blick auf sie. Sie saß neben ihm, starrte auf ihren Schoß und zupfte an einem losen Faden, der an ihrem Mantel hing. Sie schien nicht zu bemerken, dass er sie beobachtete und wenn sie es tat, dann ließ sie es sich nicht anmerken.
Doch sie spürte seinen Blick auf ihrer Haut und traute sich nicht den Kopf zu drehen, denn sie wollte nicht, dass er die Röte sah, die auf ihre Wangen getreten war. Ihr Herz schlug noch immer schnell in ihrer Brust, sie hörte ihren Herzschlag laut in ihren Ohren und beinahe glaubte sie, er würde das Geräusch ebenfalls hören. Doch er hörte ihren Herzschlag nicht, stattdessen bemerkte er das Zittern ihrer dünnen Finger und er war sich nicht sicher, ob das Zittern von der Kälte kam oder von der Angst, die sie beschlichen hatte.
Es war nicht zu übersehen, dass sie sich fürchtete, denn wann immer ein Geräusch zu hören war, schoss ihr Kopf für einen Augenblick lang in die Höhe und ihre Augen schweiften unruhig durch den Raum. Sie sprach kein Wort und es schien so, als würde sie sich nicht trauen, mit ihm zu sprechen, dabei wollte er ihre Stimme erneut hören.
Er versuchte sich an ihre wenigen Worte zu erinnern, die sie gesprochen hatte. Versuchte ihre Stimme in seinem Kopf zu hören, doch es klappte nicht. Er konnte sich nicht an ihre Stimme erinnern. Wie hatte sie geklungen? Laut? Er schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war leise und zittrig gewesen. Hatte sie schnell gesprochen? Er wusste es nicht mehr und während er darüber nachdachte, drang eine Stimme an sein Ohr.
Ihre Stimme.
„Klassische Musik."Er drehte den Kopf in ihre Richtung, ihre Worte waren so plötzlich über ihre Lippen gekommen, dass er gar nicht verstand, was sie ihm sagen wollte. „Was?" Er legte den Kopf schief, seine Mütze verrutsche ein wenig und ein paar braune Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht.
„Ich höre klassische Musik. Aber nicht Mozart."
Er ließ seine Augen über ihr Gesicht wandern. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht und für einen Moment lang war er versucht, seine Hand auszustrecken und ihr die Strähne hinter das Ohr zu streichen. „Was hörst du dann? Beethoven?"
Sie strich sich die braune Haarsträhne hinter das Ohr, ihre Fingernägel schimmerten in einem dunklen Rot und sein Blick glitt augenblicklich zu ihren Lippen, die in der selben Farbe glänzten. Ihre Mundwinkel zuckten und sie schüttelte den Kopf, beinahe energisch. „Nein." Er beobachtete wie sich ihre Lippen bewegten und dann wurde es wieder still. Niemand sagte ein Wort und er ließ seinen Blick von ihren Lippen nach oben zu ihren Augen wandern. Sie hatte den Blick gesenkt und den Kopf gedreht, so dass er sie nur von der Seite betrachten konnte.
„Du hörst also klassische Musik?"
Ihr Kopf rückte nach oben und mit einem Mal war er ihr unheimlich nahe.
Sie blieb still. Ein lautloses Seufzen kam über seine Lippen. Sie wollte offenbar nicht mehr mit ihm sprechen. Nun war es, der den Blick abwandte. Er starrte an die weiße Decke und ihr Blick fiel auf ihn. Lautlos betrachtete sie ihn. „Gibt es auch rockige klassische Musik?"
Er starrte weiterhin an die Decke und sie legte die Stirn bei seiner Frage nachdenklich in Falten. „Rockige klassische Musik?", wiederholte sie seine Worte und er nickte, während sich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln verzogen. Er mochte ihre Stimme, er hatte sie noch nicht besonders oft gehört, aber er mochte ihren Akzent und er mochte es, wie sie manche Wörter betonte.
„Ja, sowas wie ACDC oder meinetwegen auch Michael Jackson. Einfach schnelle Musik."
Sie blieb erneut stumm, ging in ihrem Kopf all die Titel der Musikstücke durch, die sie in ihrem Handy eingespeichert hatte, doch als sie ihm nicht antwortete, zog er die falschen Schlüsse. „Du weißt doch wer Michael Jackson ist?" Sein Blick fiel auf sie zurück. „Natürlich weiß ich wer Michael Jackson ist. Wo denkst du denn das ich lebe? Auf dem Mond?" Sie lächelte und es war das erste Mal, dass er sie lächeln sah.
„Ich dachte ihr Klassikliebhaber dürft vielleicht nichts anderes hören als Klassische Musik."
„So ein Quatsch, es gibt keine Regeln. Ich darf hören was ich will."
Ein kleines Grinsen lag auf seinen Lippen und als sie kein Wort mehr sagte und ihn nur stumm ansah, legte er den Kopf schief. „Und?" Ihre Wangen verfärbten sich in einem zarten Rotton, als er sie so offen anstarrte. „Und was?", fragte sie leise. „Gibt es rockige klassische Musik?"
Langsam schüttelte sie den Kopf. „Nein."
„Bist du dir sicher?" Sie schüttelte erneut den Kopf. Ein leises Lachen kam über seine Lippen und sie mochte das Geräusch, das er machte, wenn er lachte. „Vielleicht gibt es ein paar Titel, aber ich kenne sie nicht." Ein weiteres Mal legte sich Stille über die beiden. Sie drehte den Kopf weg, doch sie spürte seine Augen auf ihrer Haut und als sie es nicht mehr aushielt, drehte sie den Kopf zurück in seine Richtung und sah ihn an.
„Was ist?"
„Bist du immer so still?"Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, nicht wegen seiner Worte, sondern weil sie beide gleichzeitig gesprochen hatten. Und auch er lächelte, denn ihre Stimme klang längst nicht mehr so ängstlich, wie sie es am Anfang getan hatte, doch das sollte sich schon bald wieder ändern.
„Beantworte meine Frage zuerst."
Sie zögerte einen Moment lang und als sie sprach, drangen die Worte nur ganz leise an sein Ohr. „Ich kenne dich nicht."
„Du kannst mich kennenlernen."
„Ich weiß nicht ob ich das möchte."
Und mit einem Mal war die Angst wieder da.
Vergessen war das Gespräch, dass sie soeben noch geführt hatten und auch das Lächeln auf ihren Lippen war verschwunden.
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02. Januar 2018
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Die Unendlichkeit einer Nacht | l.t
Short StoryEine Geschichte über eine Nacht, die das Leben zweier Personen verändert. Eine Geschichte darüber, wie unendliche lange eine Nacht sein kann. [Dezember 2017] • ALTERNATIV UNIVERSUM | Louis Tomlinson • Cover von calalu