J E D E N

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Ich habe mich überreden lassen. Es hat dennoch eine Weile gedauert, bis ich sein Angebot bejaht habe. Und so wird der Tag nun ausklingen. Ein kurzer Aufenthalt an einem besonderen Ort. Zumindest hat mein Kollege diesen Ort als besonders bezeichnet.

Ich bin gerade dabei, die letzten Unterlagen in die Schubladen einzusortieren, als der junge Mann in das Büro schreitet. Ein knappes Klopfen richtet meinen Blick zu der Tür hin. Ich hebe ein wenig die Augenbrauen.

„Bist du so weit?", will Vincent Delrose erfahren und kreuzt die Arme vor der Brust. Das Shirt, welches sich eng an den Oberkörper schmiegt, lässt die Muskeln unter dem Stoff spielen. „Es wird nämlich so langsam Zeit, in den Feierabend zu gehen." Er beobachtet mich, wie ich die losen Blätter in die Ordner stopfe und sie anschließend in der Schublade verstaue.

„Gleich", gebe ich zurück  und schiebe sie mit einem Finger zu. Sie gibt ein leises Quietschen von sich. „Ich muss nur noch meine Sachen zusammensuchen, und danach können wir gerne los." Ich richte mich gerade auf. Die Füße tragen mich zu dem anderen Ende des recht kleinen Büros hin.

Vincent lässt einen Seufzer ertönen.

„Was musst du denn noch zusammensuchen?", stellt er mir die Frage und stimmt einen überraschten Ton an. „Gibt's da überhaupt etwas zum Zusammensuchen?" Seine Hände schiebt er in die Hosentaschen der schwarzen Jeans. Obwohl der frühe Abend warme und angenehme Temperaturen mit sich gebracht hat, bevorzugt der Dreißigjährige es, in langen Hosen durch die Straßen zu ziehen.

„Ja?" Ich sammele die wenigen Habseligkeiten ein und stopfe sie ohne jegliche Achtung in die Hosentaschen. „Vielleicht das Handy, die ganzen Schlüssel? Ehrlich, Vince. Denkst du, ich ginge ohne alles zur Arbeit?" Meine Finger gleiten an der Hose entlang und holen mir somit die Bestätigung ein. Ich habe mich aus der Dienstkleidung geschält und bin in die gemütliche Wahl für den Rest des Tages geschlüpft. „Mensch, manchmal frage ich mich wirklich, ob du blöd bist oder nur so tust."

Der Blonde verdreht die blauen Augen, stößt sich von dem Türrahmen ab und tritt ein wenig in den Flur, als ich zu ihm gehe.

„Hey, ich bin nicht blöd", nimmt er sich sogleich selbst in Schutz und folgt mir. Er schließt hinter sich die Tür und heftet sich an meine Fersen. „Ich habe dir vorhin eine ganz normale Frage gestellt. Du musst nicht gleich so scharf darauf reagieren." Vince bringt etwas Tempo auf, um neben mir zu gehen. „Na ja, wie dem auch sei. Hauptsache, du hast jetzt deine ganzen Sachen beisammen. Ich habe so langsam keine Lust mehr, hier in der Station zu bleiben. Ich vermisse den Feierabend nämlich."

Wir weichen einigen Kollegen aus. Ein rasches Wort wird gewechselt, ein flüchtiger Blick wird ausgetauscht. Mehr folgt nicht. Viele unserer Kollegen haben die Entscheidung gefällt, die Nachtschicht zu übernehmen. Die Nacht hat die meiste Action zu bieten, haben sie erläutert. Die Nacht ist das Spannendste, die die Zeit anzubieten hat. Warum also nicht zugreifen, wenn man die Chance dafür bekommt? So ganz kann ich mich mit dieser Erklärung nicht anfreunden. Ich vermute, dass ich nicht dafür geschaffen bin, die Nacht zum Tag zu machen. Ich habe mich schon mit dem Tag arrangiert, und selbst dieser hat mir eine Menge anzubieten. Als langweilig würde ich den Ablauf von mir nicht bezeichnen.

„Na, sicher?", gebe ich ungerührt zurück. Wir schlagen den Weg zu dem Treppenhaus ein. „Manchmal kommt es mir so vor, als seist du blöd." Ein kleines Grinsen spielt auf den Lippen. Ich stoße die Doppeltür auf und gehe in das Treppenhaus. Ein stechender Geruch, welcher aus dem Boden tritt, umspielt meine Nase. Ich kneife etwas die Augen zusammen und realisiere nicht, wie sich Anfänge von Kopfschmerzen durch meinen Kopf bahnen.

Aus Vincents Kehle drängt sich ein tiefes Brummen. Es wird mit einem Gelächter meinerseits quittiert.

„Wenn ich ehrlich bin, verspüre ich gerade das Bedürfnis, dich von der Treppe zu schubsen", meint der Dreißigjährige, während wir die einzelnen Stufen hinter uns bringen. Die Schritte hallen in den Ohren wider.

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