C Z T E R D Z I E Ś C I

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Ich habe meine Augen offen. Wie lange ich mich schon im wachen Zustand befinde, weiß ich nicht. Es fühlt sich lange an. Ich blinzele schwer und richte mich auf. Krumm und in Gedanken versunken. Erste Sonnenstrahlen haben sich in das Zimmer geschlichen und verdrängen einen Teil der Dunkelheit. Vögel singen fröhlich und unbeschwert ihre Lieder, von irgendwo kläfft ein Hund. Ein tonloser Seufzer entweicht mir, und ich schiebe mich aus dem Bett. Die Schwere von gestern habe ich nicht vollständig abwerfen können. Etwas Gewicht schleppe ich weiterhin mit mir herum. Ich verziehe ein wenig den Mund und strecke die Arme empor. Die Knochen ächzen sehr leise, ehe ich zu der Tür gehe. Langsam und leicht schwankend. Ich fühle mich nicht erfrischt oder ausgeschlafen. Gerne würde ich für weitere Stunden im Bett liegen bleiben. Oder es gar nicht verlassen. Dort würde niemand meine Nerven beanspruchen, und ich könnte die letzten Gewichte abwerfen.

Ich trete in den Flur. Rutsche tiefer in die Gedanken ab. Ich blende halb die Geräusche aus, welche aus dem Badezimmer kommen. Ich nehme eine Haarsträhne aus meinem Gesicht und sehe Richtung Quelle des Geräusches. Vermutlich muss meine Schwester unter der Dusche stehen. Ein Stein fällt mir vom Herzen, und ich wende den Blick weg, nehme die Schritte wieder auf. Zoë ist zu Hause. Wohlbehalten und ohne ihren Begleiter. Ich habe nicht gedacht, dass Nael sie nach Hause fahren würde. Scheinbar muss er wohl ein anständiger Kerl sein.

„Schön, dass ich mich in diesem Falle geirrt habe", murmele ich und kann nicht ein Lächeln verhindern. „Und da bin ich doch tatsächlich davon ausgegangen, dass er sonst 'was gemacht hat. Hm, na ja. Zumindest bin ich ziemlich froh, dass sie wieder hier ist." Ich befinde mich auf der Mitte der Treppe. Bin für einen Augenblick stehen geblieben. „Heute ist also der Tag, an dem ich Vince zur Rede stellen werde." Allein der Gedanke bereitet mir Unbehagen. Ich setze mich in Bewegung, habe schnell den Flur erreicht. „Ich sollte mir ein paar passende Worte überlegen. Ungern will ich gleich mit der Sache herausbrechen."

Aber wie soll ich das Gespräch anfangen? Ich ziehe die Stirn kraus und husche in das Wohnzimmer. Lasse den Blick durch dieses schweifen. Zoë hat wohl die Hälfte ihrer Sachen hier unten gelassen. Ihr Handy befindet sich auf dem Tisch, ebenso etwas Kleingeld. Ich nähere mich der Couch, kann sogar die Bluse und das Top ausfindig machen. Ich hebe ein wenig die Augenbrauen, bastele mir einen Verdacht zusammen, welchen ich allerdings blitzartig auflöse.

„Bloß nicht. Ich denke jetzt nicht an Dinge, die nicht passiert sind." Ich kehre der Couch den Rücken zu und mache mich auf, um in die Küche zu gehen. Ich steuere das Fenster an und öffne es halb. Die Gesänge werden lauter, und ich spähe zu dem Busch, der sich bei dem Briefkasten befindet. Die weißen Blüten sind geöffnet, Insekten steuern sie an oder lassen sich ganz auf sie fallen. Kleine Vögel hocken im Geäst, gelegentlich segelt einer fort. Ich verfolge das Schauspiel für weitere Sekunden. Denke dabei an nichts, nehme höchstens diese seltsame Schwere wahr. Ich habe die von dem gestrigen Tag nicht abwerfen können, das habe ich soeben festgestellt. Ich gebe einen prägnanten Seufzer preis, wende mich von dem Fenster ab und mache mich daran, den Wasserkocher aufzufüllen und eine kleine Schale aus dem Schrank zu holen. Die Wahl des Frühstücks habe ich auf etwas Einfaches und Schnelles beschränkt. Nichts mit frischem Obst oder dergleichen; eine kleine Schale mit Müsli.

„Hauptsache, der Kaffee kann mich etwas aufmuntern", fange ich mit mir selbst ein Gespräch an, während ich die Packung beiseite stelle und ein wenig Milch hinzugebe. Das Wasser kocht mittlerweile und übertönt das Konzert der Vögel. „Bisher hat er mich noch nie enttäuscht." Ich nehme die Schale an mich und transportiere sie zu dem Tisch. Meine Schwester soll es sich alleine zubereiten; gerade verspüre ich nicht die Pflicht, ihr Frühstück ebenfalls anzurichten. Mit einem stumpfen Laut lasse ich mich auf den Stuhl fallen, den Löffel fest umklammert. Ich lege die linke Hand um die Schale und nehme dann das Müsli zu mir. Führe ihn in langsamen Runden durch das Müsli herum. Starre ohne jeglichen Ausdruck auf die Tischplatte. Im Flur erklingen Schritte. Ein ausgelassener und entspannter Gang. Ich muss nicht in diese Richtung sehen; Zoë ist geradewegs erschienen. Gekleidet in kurzen Klamotten, das weiße Shirt fällt über ihre Hose. Sie scheint mir Worte an den Kopf geworfen zu haben. Ich schenke ihr keine Reaktion, keinen Gruß. Sitze weiterhin ausdruckslos und mit einem schweren Gefühl da und frühstücke.

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