Kapitel 1

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„Hast du die Kisten für die Sachen aus dem Badezimmer gesehen?", rief mir mein Vater durch das Haus zu. Ich blieb still und sah weiter aus dem Fenster. Es hatte seit Wochen nicht einen Tropfen geregnet, doch heute fiel er in dicken Bindfäden vom Himmel und schwemmte den Rasen unseres Gartens auf. Ich nahm das Prasseln des Regens sogar durch das geschlossene Fenster wahr, sodass mir wohlige Schauer über den Rücken jagten und ich meine Strickjacke enger um mich zog. Beim Regen fühlt man sich einfach immer wohl in geschlossenen Räumen. Ich hätte mir am liebsten einen Kakao geholt, mir eine Decke und ein Kissen geschnappt und auf der großzügigen, beheizbaren Fensterbank in meinem Zimmer mein Bewusstsein in einem Buch versinken lassen. Warum musste ich hier nur weg...? Ich hörte meinen Vater im Erdgeschoss unseres Hauses rumpeln, vermutlich war er immer noch auf der Suche nach der verschollenen Kiste... Recht so, sollte er sie doch suchen, wenn er nicht wusste, wo sie war... Ich war schließlich nicht diejenige, die es für nötig hielt in einen anderen Bundesstaat zu 7 mir völlig fremden Menschen zu ziehen... Ich hörte, wie er mit schweren Schritten die Treppe hochlief und sich meinem Zimmer näherte... Ich hörte, wie er den Spalt meiner Zimmertür vergrößerte und leise eintrat. Ich sah weiter aus dem Fenster. Sollte er doch reden, wenn er meine Aufmerksamkeit wollte... „Schätzchen...", begann er und brach wieder ab. Ich hörte, wie er sich mit seiner Hand durch die Haare fuhr und ein leichtes Seufzen von sich gab. Er zog die Luft ein, als ob er etwas sagen wollte und ließ sie dann wieder ausströmen, er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Das hatte ich auch nicht, als mein Vater mir mit seiner neuen Freundin Grace in meinem Lieblingsrestaurant beigebracht hatte, dass wir in den Sommerferien nach South Carolina umziehen würden. Weg von meinem zu Hause, meinen Freunden, den letzten Beweisen dafür, dass meine Mutter jemals existiert hatte... zumal war ja Grace nicht die einzige, mit der ich von nun an zusammenleben würde... Ich spürte das Gewicht der warmen Hand meines Vaters auf meiner Schulter ruhen und sah zu ihm auf. Er sah wirklich chaotisch aus, genauso wie ich es von ihm gewohnt war: Sein schwarzes Haar stand in alle Richtungen von seinem Kopf ab, sein Hemd war falsch geknöpft und nur zur Hälfte in seine Hose gesteckt und er hatte verschiedenfarbige Socken an. Mein Dad war eben manchmal ein wenig verpeilt, was ihn aber in meinen Augen nur noch liebenswerter machte... Er sah mich hilfesuchend an und setzte zu einem Gespräch an, welches ich aber durch ein schnelles Aufstehen unterbrach. „ Die Kiste steht auf der Couch im Wohnzimmer und hat einen großen blauen Punkt. Ich räume noch das restliche Zeug aus meinem Zimmer zusammen, dann komme ich runter", sagte ich und schenkte meinem Dad ein kleines Lächeln, welcher daraufhin den Raum verließ. „ Ich liebe dich, Schätzchen", rief er mir aus dem Flur zu, ehe ich ihn wieder die Treppe hinunterpoltern hörte. Ich lächelte in mich hinein und widmete mich den wenigen, verbliebenen Sachen in meinem Zimmer: Mein Tagebuch, mein IPod und meine Bilderrahmen lagen noch auf meinem Schreibtisch. Ich machte mich daran, die empfindlichen Bilderrahmen in Knisterplastik zu wickeln und in einer meiner Kleidungskisten vorsichtig zu verstauen, ehe ich meinen IPod und mein Tagebuch in einer Tasche verstaute und mir über die Schulter hängte. Ich hörte ein lautes Hupen von draußen, welches das Eintreffen des Möbelwagens ankündigte und sah mich noch einmal gründlich in meinem Zimmer um, dass ich sich ja nichts vergessen hatte... Ich drehte mich um und ging die Treppe hinunter in das Erdgeschoss unseres Hauses. Einige Möbelpacker hatten schon damit begonnen, unsere Umzugskisten in den Umzugswagen zu verladen und die wenigen Möbel, die wir mitnehmen würden, transportsicher zu machen... Ich ging zu meinem Dad in die Küche, welcher gerade dabei war zu telefonieren. „ Ja, sie sind schon da... ich nehme an am frühen Abend... ja, Cat hat uns etwas für die Reise eingepackt...", unterhielt sich mein Dad am Telefon, vermutlich mit Grace... GRACE?, formte ich mit den Lippen. Mein Vater nickte daraufhin und sah mich mit leuchtenden Augen an. Er bekam diese freudigen Kindesaugen, wenn er über sie sprach oder mit ihr redete. Er schien sie wirklich zu lieben und das freute mich für ihn, auch wenn das hieß, dass ich von nun an in einem fremden Bundesstaat mit einer mir nahe zu unbekannten Frau und 6, richtig, 6 StiefBRÜDERN (!!!) leben würde, welche ich im Gegensatz zu Grace noch nicht einmal getroffen hatte. Meinem Dad zuliebe würde ich so gut gelaunt wie möglich den Tag verbringen, auch wenn ich in Wirklichkeit schon den ganzen Tag eine leichte Übelkeit verspürte...

Nach 3 Stunden waren die Möbelpacker fertig und begannen in Richtung South Carolina aufzubrechen, in Richtung meines neuen Lebens und einer ungewissen Zukunft... Ich blieb noch am Küchenfenster stehen, ehe ich mich vom Fenster wegdrehte und die Stufen zum 1. Stock unseres Hauses erklomm: Stufe für Stufe... Ich lief den Flur zu meinem Zimmer entlang und betrat es ein letztes Mal. Mit seinen kargen Wänden und den leeren Möbeln wirkte es trostlos und melancholisch. Ich seufzte bei dem Gedanken daran, wie viele Mädelsabende, Nächte und Tage ich in diesem Zimmer verbracht hatte. Sogar daran, wie meine beste Freundin Sam mir geholfen hatte, mein Zimmer von einem hellen blau in ein neutrales Weiß zu streichen erinnerte ich mich: Zu unserem Erschrecken mussten wir feststellen, dass die bunten Graffitis, die wir zuvor über meine gesamten Wände gesprüht hatten sich nicht beim ersten Mal Streichen überdecken ließen, sodass wir unseren Vorgang ganze 3-mal wiederholen mussten, wobei mein Zwillingsbruder Kieran uns letztendendes helfen musste. Kieran... Weitere Erinnerungen, die ich hier zurücklassen musste... Ich verließ langsam mein Zimmer und schloss die Tür. Meine Schritte über die Holzdielen meines Zimmers hallten in unseren leer geräumten Flur wieder und verstärkte mein Gefühl von Trostlosigkeit. Mit einem kleinen Seufzer schloss ich mein Zimmer, drückte die Türklinke zur Sicherheit noch ein letztes Mal runter und legte den Schlüssel auf meinem Türrahmen ab. Ich ging noch einmal durch alle Zimmer und kontrolliert sie auf geschlossene Fenster und ausgeschaltete Lichter. Als letztes betrat ich das Schlagzimmer meiner Eltern. Beim Öffnen der Tür wirbelte leichter Staub durch die Luft und die abgestandene Luft des Raumes strömte in meine Lungen. Seit meine Mom vor 4 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, war der Raum so gut wie nie betreten worden. Mein Dad hatte sogar seinen Schlafplatz auf das Sofa verlegt... Ich griff mir einen der Flakons, die auf einem kleinen Schminktisch standen und atmete den wohltuenden Duft des Parfums ein. Ich schloss die Augen: Mom's Parfum... Ich stellte es zurück und verließ den Raum wieder, ehe ich als letztes alle Sicherungen im Stromkasten abstellte. Klar, dass Dad das in der Eile heute morgen vergessen hatte... Tränen standen mir plötzlich in den Augen und ich konnte einen kleinen Schluchzer nicht unterdrücken.
Verdammt, ich wollte doch nicht weinen...
Ich lief schnellen Schrittes in die Küche, schnappte mir den Proviantkorb und rannte Richtung Ausgang, ehe ich mich noch einmal umdrehte. Ich riss eine Seite aus meinem Tagebuch und schrieb unsere neue Adresse in South Carolina auf. Ich konnte nur hoffen, dass mein Bruder sie finden würde... Ich verließ das Haus und verschloss die Tür. Mein Vater wartete schon mit laufendem Motor im Auto... Ich setzte mich neben ihn auf den Beifahrersitz, stellte den Korb in den Fußraum und schnallte mich an. Ein leichter Tränenschleier trübte meine Sicht, als mein Dad losfuhr und unser Haus im Rückspiegel immer kleiner wurde. Wir fuhren in eine unbekannte Stadt, zu mir unbekannten Leuten in ein neues Leben...

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So, das war das 1. Kapitel wie findet ihr es?☘️

Ich dachte, dass ich euch noch einen kleinen Einblick in ihr Leben und Umfeld vor dem Umzug verschaffe, damit ihr euch in den nächsten Kapiteln besser mit ihr zurecht findet...😉

Würdet ihr zu 6 Stiefbrüdern und einer Stiefmutter ziehen?

Ich wünsche euch noch einen schönen Tag und schonmal einen guten Rutsch ins neue Jahr🌹💫

Moving to a new lifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt