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Dieser Traum war anders, als die anderen. Ann sah gar nichts. Um sie herum war alles schwarz und sie selbst besaß scheinbar keinen Körper. Auf einmal hörte sie Stimmen. Erst dumpf, doch langsam immer deutlicher schrien sie durcheinander. Manche riefen nach Hilfe, andere stießen einfach nur Schmerzensschreie aus, die ihr durch Mark und Bein fuhren. Einige der Stimmen kamen ihr bekannt vor. Ihre Eltern, ihre Mentorin und vergangene Freunde schrien alle wirres Zeug, bis sich die Stimmen zu einem einzigen Ruf vereinten. Sie riefen ihren Namen - ihren echten Namen. Und danach immer wieder: "Hilf uns! Rette uns!" Ann wollte sich die Ohren zuhalten, was natürlich nicht ging, da sie weder Ohren noch Hände hatte. Sie dachte schon, die Stimmen würden sie in den Wahnsinn treiben, als plötzlich ein helles Licht erschien und eine einzige Stimme die anderen förmlich wegfegte und ihr Herz wärmte. Sie gehörte zu Vale. Er rief: "Ann! Verdammt, wach auf!"

Ann fuhr ruckartig auf und stieß dabei mit ihrem Kopf gegen Vales Stirn, der sich über sie gebeugt hatte und sie an den Schultern festhielt. "Aah!", machten beide synchron und fassten sich an die schmerzenden Stellen. Sie fiel zurück in ihr Kissen, als ein dumpfer Kopfschmerz ihren Blick verschwimmen ließ. "Endlich bist du wach. Ich versuche seit zehn Minuten, dich zu wecken. Du hast mich erschreckt! Geht's dir gut?-", sprudelte er los. "Schhhh!", unterbrach sie ihn genervt und massierte ihre Schläfen. "Mein Kopf", flüsterte sie mit geschlossenen Augen. "Oh." Er stürzte aus dem Raum. Sie seufzte auf und genoss die Ruhe, die vermutlich nicht lange anhalten würde. Tatsächlich kam er wenig später mit einem Becher zurück, den er ihr in die Hand drückte. "Trink", forderte er sie auf. Sie tat, wie ihr geheißen und stürzte das Gebräu trotz seiner hohen Temperatur herunter. Fast sofort spürte sie, wie der Schmerz schwächer wurde und schließlich verschwand. "Danke", sagte sie und sah ihn an, als sie wieder klar denken konnte. Er nickte ihr nur zu. "Scheint auch bei Kater zu helfen", stellte sie nüchtern fest. Ihm war in keiner Weise anzumerken, wie betrunken er am vergangenen Abend gewesen war. "Du weißt davon?", fragte er. "Wir sind uns im Flur über den Weg gelaufen. Du erinnerst dich nicht?" Er schüttelte den Kopf und fragte: "Was hab ich gesagt? Irgendetwas... Falsches?" Sie grinste. "Du hast mich klein und niedlich genannt. Und du scheinst 'Süße' als einen passenden Spitznamen für mich zu halten." Ein sehr relevantes Detail  behielt sie dabei  für sich, da  sie nicht wusste, wie er reagieren würde  Er kratzte sich am Kopf. "Tut mir leid", sagte er zerknirscht und fragte weiter: "Was hast du gesagt?" "Ich habe dich einen betrunkenen Volltrottel genannt", meinte sie trocken. "Natürlich", grinste er. Darauf erwiderte sie nichts und rollte den leeren Tonbecher zwischen ihren Handflächen hin und her. "Du hast wieder schlecht geträumt, oder?", brach er das Schweigen. Sie nickte nur. "Was war es diesmal? Du hast im Schlaf gesprochen und geschrien." "Was hab ich gesagt?", fragte sie verwundert. "Dinge wie 'Geht weg!', 'Lasst mich in Ruhe!' und immer wieder hast du gefragt: 'Wie denn?'", erzählte er und machte dabei ihre Stimme nach, was sie beide grinsen ließ. Sie sah auf ihre Hände. "Ich habe Stimmen gehört. Meine Eltern, Freunde, meine Mentorin. Sie wollten, dass ich sie vor irgendetwas rette, dabei sind sie doch schon lange tot. Dann hast du mich da rausgeholt." "Schrecklich", murmelte er und nahm ihre rechte Hand. Er betrachtete ihren Handrücken und fuhr dabei mit dem Daumen über eine Narbe, die von ihren Fingerknöcheln schräg bis zum Handgelenk verlief und sich silbrig von der restlichen Haut abhob. "Wie ist das passiert?", fragte er leise. "Ich habe versucht, ein Messer zu fangen." "Jetzt verstehe ich", sagte er und dachte an ihr erstes gemeinsames Frühstück zurück. Sie nickte. "Ja. Den Fehler mache ich nicht nochmal. Wäre der Schnitt tiefer gewesen, hätte ich meine Hand verloren. Zum Glück war mein Gegner kein erfahrener Messerwerfer. Ich hab ihn am Ende überwältigt, seine Kehle durchgeschnitten und ihn ausbluten lassen. Er hatte seine einzige Waffe weggeworfen." "Was für ein Idiot", sagte er kopfschüttelnd. Sie nickte erneut und wollte ihm seine Hand entziehen, um aufzustehen, doch er hielt sie fest.

692 Wörter

AnnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt