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Azura erwachte in Dunkelheit. Ihr Schädel brummte und die ruckartigen Bewegungen ihrer Umgebung machten es nicht besser. Sie blinzelte ein paar mal, konnte aber trotzdem nichts sehen. Stöhnend setzte sie sich auf und lehnte sich an eine Wand des Gefährts, in dem sie sich offensichtlich befand, denn sie war in Bewegung und von draußen hörte sie Hufgetrappel. Sie hatte keine Ahnung wo oder wie spät es war. Und sie konnte sich auch nicht erinnern, wie sie hier rein gekommen war. Wie lange war sie wohl bewusstlos gewesen? Sie fasste sich an den Hinterkopf, von dem die dumpfen Schmerzen auszugehen schienen. Sie erschrak, als sie getrocknetes Blut spürte, das ihre Haare verklebte. Na fabelhaft, dachte sie sich. Diesen Mist würde sie aus jeder Strähne einzeln auswaschen müssen. Vermutlich sollte sie im Moment größere Sorgen haben, immerhin wurde sie gerade von dem verrückten Bruder ihres Geliebten entführt, doch sie war seltsam ruhig. An ihrer Lage konnte sie im Moment wegen dieser bescheuerten Schmerzen sowieso nichts ändern, also versuchte sie es gar nicht erst. Eine jede Bewegung ließ ihren Kopf unangenehm pochen. Sie würde ihre Kraft später wahrscheinlich noch für wichtigere Dinge brauchen. Sie streckte sich so gut das eben in diesem engen Raum, in dem sie nicht einmal aufrecht stehen konnte, ging und klopfte dann gegen die Holzwand, die in Fahrtrichtung lag.

"Hey! Wo bringst du mich hin?", rief sie. "Oh? Du bist schon wieder wach?", fragte Gabe zurück. Azura freute sich kein bisschen, ausgerechnet seine Stimme zu hören. Er war in dieser kurzen Zeit zu einem Menschen geworden, den sie abgrundtief hasste. Dieses Gefühl beruhte vermutlich auf Gegenseitigkeit. "Offensichtlich", sagte sie trocken, "Wie lange war ich denn weg?"
"Vielleicht drei oder vier Stunden."
"Dann hast du ja ganz schön kräftig zugeschlagen. Meinen Respekt. Ich hab es noch nie länger als zwei Stunden hingekriegt."
"Sieh es als Rache für das Wasser. Auch wenn du als Strafe dafür natürlich etwas viel Schlimmeres verdient hast." Ihre Unterhaltung klang wie die zweier Nachbarn, die sich stritten, wer von beiden das schönere Blumenbeet hatte. Eigentlich hasste man sich, aber man wollte ja trotzdem höflich bleiben.

"Also, wohin bringst du mich?", wiederholte sie ihre Frage. "Zu einem Außenposten. Und zu Sheriff selbstverständlich", antwortete er. "Das ist aber freundlich von dir. Dann muss ich ihn ja nicht erst suchen, um ihn umzubringen", sagte sie sarkastisch. Er lachte. Sie lachte. Beide wussten, dass sie es todernst meinte. Nur sah es im Moment eher nicht so aus, als würde sie etwas dergleichen tun können. Eine Weile schwiegen sie einfach. Azura achtete darauf, dass ihr Kopf nicht jedes Mal gegen die Wand schlug,  wenn die Kutsche über eine Unebenheit fuhr. So klangen ihre Schmerzen langsam ab. Sie suchte nach einem Fluchtweg, aber sie fand absolut gar nichts. Sie saß in einem Holzkasten. Keine Fenster, die Tür wollte nicht nachgeben, es gab nicht mal ein Luftloch. Wollte Gabe sie jetzt ersticken? Sie beschloss, das zu überprüfen. "Hallo? Ich bekomme keine Luft", maulte sie. "Pech gehabt", sagte Gabe ungerührt. "Hm", machte sie. So würde sie wohl nicht hier rauskommen. Vielleicht könnte sie irgendwie eine der Holzplanken heraushebeln. Sie griff nach ihrem Dolch, doch er war nicht an ihrem Gürtel. Alle ihre Waffen waren fort. Sogar ihre Halskette. Jetzt war Azura beunruhigt. Sehr sogar. Sie versuchte, ihre Kette wie letztens zu sich zu rufen, aber scheinbar funktionierte das nur, wenn sie wusste, wo das Artefakt war.

"Du hast mir meine Waffen weggenommen. Ich hätte nicht gedacht, dass du so weit denkst", sagte sie. "Du unterschätzt mich", stellte Gabe fest. "Kann gut sein. Ich habe keine besonders hohe Meinung von dir", sagte sie beiläufig. "Warum das denn?", fragte er. Azura konnte das gespielte Entsetzen aus seiner Stimme heraushören. "Ach, ich weiß nicht. Du bist mir einfach unsympathisch. Wahrscheinlich liegt es daran, dass du mich gerade entführst." Darauf antwortete er nicht. "Naja, ich schaffe es auch anders hier raus", sagte sie viel leichtherziger als sie sich eigentlich fühlte. Zwar formte sich in ihrem Kopf ein Plan, jedoch hatte dieser keinerlei Erfolgsgarantie. Sie tastete alle Wände der Kutsche nach einer Schwachstelle ab. Sie suchte nach einem lockeren Brett oder einem Riss im Holz, aber sie blieb erfolglos. Egal. Ihr Plan würde hoffentlich auch so funktionieren. Sie nahm so viel Anlauf wie der enge Raum zuließ und warf sich mit ihrem gesamten Gewicht gegen eine Wand der Kutsche. Gabe fluchte, als das Gefährt zwar stark schwankte, doch es blieb stehen. Azura versuchte es nochmal und gleich darauf ein drittes Mal. Schließlich schaffte sie es. Die Kutsche fiel um. Sie hörte ein erschrockenes Wiehern des Kutschpferdes und brechendes Holz, doch für sie blieb es weiterhin dunkel. Aber wenigstens war die Kutsche beschädigt. Sie wusste zwar nicht wie schwer, aber Gabes wüste Flüche ließen sie zufrieden grinsen. "Du blödes Miststück! Was hast du jetzt schon wieder gemacht?! Die ganze Zeit bringst du nur Ärger!"
"Ich bin gestolpert", sagte sie entschuldigend. "Na klar! Und das gleich dreimal!" Sie konnte hören wie er sich aufrappelte und um die Kutsche stapfte. Es klapperte, dann öffneten sich die Türen, die jetzt auf der Seite lagen. Sie kniff die Augen zusammen, als sie von der Helligkeit geblendet wurde.

"Raus da!", fauchte Gabe. "Liebend gern", sagte Azura und kroch ins Freie. Die Sonne stand schon recht niedrig am Himmel, brannte aber noch immer schonungslos auf sie herab. Schnell sah sie sich um und sog gierig die frische Luft ein. Athen war nirgends zu sehen, aber in der Ferne stiegen Rauchschwaden auf. Azura wusste nur nicht, ob diese tatsächlich zu der großen Stadt an Griechenlands Küste gehörten. Die Luft roch salzig, also mussten sie noch in Küstennähe sein. Weit und breit war nichts zu sehen. Nur hügeliges Grasland mit vereinzelten Bäumen und Büschen. Alles halb vertrocknet. Als nächstes sah sie zu Gabe. Er schien mit der Reparatur ihres Transportmittels beschäftigt, war aber keineswegs unachtsam. Azura brauchte eine Waffe.

"Du weißt schon, dass ich jetzt einfach weglaufen könnte, oder?", fragte sie beiläufig. "Lauf doch. In einem Umkreis von fünfzig Meilen von hier ist gar nichts. Keine Menschenseele und keine Verstecke. Ich finde dich wieder." Azura ging achselzuckend um die Kutsche zum Pferd. Jetzt sah sie auch, was der Schaden war. Einer der Holzbalken, die das Geschirr des Zugtieres mit der eigentlichen Kutsch verbanden, war glatt durchgebrochen. Azura grinste schadenfroh. Das würde keine leichte Reparatur werden. Dann fiel ihr Blick auf das Pferd, das hilflos zu ihr aufsah. Man konnte sehen, dass es Angst hatte und es konnte nicht aufstehen, da es sich in den Zügeln verheddert hatte. Sie ging neben dem aufgeregten Tier in die Hocke und sprach beruhigend darauf ein. Dann löste sie behutsam die Schnallen und Verschlüsse am ledernen Zaumzeug. Sie hatte zwar keine Ahnung, was genau sie da tat, aber sie machte einfach alles auf und hoffte auf das Beste. Dabei versuchte sie, auf keinen Fall Gabes Misstrauen zu erwecken. Nach einigen Minuten achtete er kaum noch auf sie. Hielt er sie jetzt ernsthaft für gehorsam? Oder glaubte er gar, dass sie aufgegeben hatte? Was für ein absoluter Vollidiot, dachte Azura und musste grinsen. Wie oft sie Vale schon so genannt hatte... Es liegt wohl in der Familie.

Tatsächlich konnte sich das Pferd schon bald besser bewegen und schließlich sogar aufstehen. Alles oder nichts, dachte Azura und machte den letzten Lederstreifen los, der das Tier noch hielt. Dann setzte sie alles auf eine Karte, sprang von der Kutsche auf seinen Rücken und stieß ihm die Hacken in die Seiten. "Los! Lauf!", rief sie und das Pferd preschte los. Gabe sprang auf und rannte ihr hinterher, doch er konnte sie nicht einholen. "Du mistige Göre! Komm sofort zurück!", brüllte er ihr nach, doch sie dachte nicht einmal daran, wieder umzukehren.

Azura hatte schon ein gutes Stück hinter sich gebracht, als auf einmal ein brennender Schmerz in ihrer Schulter explodierte. Sie wurde heftig nach vorne geschleudert und ihr wurde kurz schwarz vor Augen. Sie verlor das Gleichgewicht und rutschte vom Rücken des Pferdes, das unbeeindruckt weiterlief. Mit der Schulter, die sowieso schon schmerzte, kam sie hart auf dem Boden auf, was den Schmerz verzehnfachte. Ein gequälter Schrei entwich ihrer Kehle, bevor die Pein sie in eine Welt zwischen Wachen und Bewusstlosigkeit trieb.

Volltreffer, dachte Gabe triumphierend und ließ grinsend die Armbrust sinken. Der Bolzen hatte sich tief in ihre Schulter gebohrt. Jetzt konnte er noch nicht sagen, ob das Schulterblatt beschädigt war, aber er hoffte, dass sie mächtig große Schmerzen hatte. Sie sollte leiden, für den ganzen Ärger, den sie ihm bereitet hatte.

1.406 Wörter

AnnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt