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Azura lächelte und machte erfreut große Augen. Das war so viel leichter gewesen, als sie gedacht hätte. Jetzt konnte sie sich auch das Gefühl der Anziehung erklären. Ihre Waffe war der Grund dafür. Natürlich. Sie konzentrierte sich auf die Kette. Ihr Plan ging auf! Und das nur, weil Sheriff keine Ahnung hatte, mit welchen Kräften er hier wirklich spielte. Es wäre keine Übertreibung, zu behaupten, dass ihr Leben von seiner Ahnungslosigkeit abhing.

Sie fühlte sich zwar noch etwas müde, was an den Nachwirkungen des Schlafmittels lag, aber sie schaffte es, den Nebel zu durchdringen. Die Kette verschwand plötzlich und tauchte einen Augenblick später in ihrer rechten Hand wieder auf. Sheriff erblasste. "Warst du nicht derjenige, der diese 'Waffe' unbedingt haben will? Hol sie dir besser wieder, bevor mir ein Missgeschick passiert", provozierte sie ihn. Er starrte sie entgeistert an und stand auf. Auch Gabe stieß sich alarmiert von der Wand ab. Azura wedelte lockend mit der Kette, bis Sheriff vor ihr in die Hocke ging. Aus purer Wut holte er aus und verpasste ihr eine saftige Ohrfeige. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr Kopf flog zur Seite und sie sah Sternchen. Ihre Wange brannte jedoch lange nicht so stark wie die Wut, die sich in ihr ausbreitete. Gabe zuckte zusammen, als das klatschende Geräusch durch den Raum hallte. Azura schloss die Augen, als Sheriff erneut zum Schlag ausholte, doch seine Hand erreichte ihr Ziel nie.

Gabe schnappte erschrocken nach Luft und Azura grinste breit und riss die Augen auf, als sie den goldenen Speer in ihrer Hand sah, dessen Spitze in Sheriffs Schulter steckte. Die Kette war in Sekundenschnelle zu einer perfekten Kopie der Waffe geworden, die sie sich vorgestellt hatte. Sheriff keuchte auf. Aus seiner Wunde trat Blut. Es zischte leise, als es auf das goldene Metall des Speeres traf und verdampfte.

Einige Sekunden lang starrte Azura einfach in die schlammfarbenen Augen des Verletzten, die nicht einmal zehn Zentimeter von ihrer Nasenspitze entfernt waren. Ein Ausdruck von Schmerz, Unglaube und Hilflosigkeit lag in ihnen, als er seine Niederlage einsah. Kurz empfand sie Mitleid für ihn und bedauerte ihren hinterlistigen Trick, aber ein plötzlicher Impuls vertrieb diese Gefühle wieder. Wie ein Gift breiteten Adrenalin und Kampfeslust sich in ihr aus und rissen die Kontrolle über ihre Handlungen an sich.

Mit einem Ruck zog sie ihre linke Hand aus den Ketten. Dabei riss ihre Haut am Handgelenk ein und wurde teilweise regelrecht abgeschält, aber sie merkte es kaum. Eine Art Blutdurst hatte von ihr Besitz ergriffen und vertrieb alle anderen Gefühle. Sie wechselte den Speer in ihre linke Hand, zog ihn aus Sheriffs Schulter und wirbelte ihn herum. Sie stieß ihm das stumpfe Ende in die Magengrube, als er sich aufrappeln wollte. Daraufhin klappte er wieder zusammen. Azura drehte den Speer erneut und stieß ihm mit aller Kraft die Spitze in den Nacken. Sie drang genau zwischen zwei Wirbel, verschob diese und durchtrennte sein Rückenmark. Die blattförmige Klinge bahnte sich weiter ihren Weg durch seinen Kehlkopf und trat an der Vorderseite seines Halses wieder aus. Er röchelte und riss die Augen auf. Sein Mund füllte sich mit Blut. Als er hustete, spritzte es heraus, zierte Azuras Gesicht mit roten Sprenkeln und lief sein Kinn hinab. Dann wurde sein Blick entrückt und brach. Er war tot.

Azura bekam mehr von seinem Blut ab, als sie den Speer aus der Leiche zog. Sechsundachtzig, dachte sie. Das alles war in wenigen Sekunden geschehen. Der Speer schrumpfte und wurde zu einem Dolch, mit dem sie die Metallschellen an ihrer rechten Hand aufbrach. Danach befreite sie ihre Füße. Dabei rutschte sie ab und hätte sich die Klinge ins Bein gerammt, doch sie glitt einfach an ihrer Haut ab, ohne auch nur einen Kratzer zu hinterlassen. Scheinbar konnte sie sich mit ihrer Waffe nicht selbst verletzen.

Als Azura aufstehen wollte, stand Gabe mit einem Messer in der Hand über ihr. Sie sah die Klinge im Licht einer Fackel aufblitzen, als er seinen Arm schnell senkte, um ihr in die Kehle zu stechen. Ihre Pupillen verengten sich, als sie erschrocken die Augen aufriss. Sie spürte den Luftzug seiner Bewegungen. Sie erkannte jeden einzelnen Kratzer, jede Kerbe im silbernen Stahl der Waffe, die ihre rapide Bewegung fließend verlangsamte und schließlich gänzlich stoppte. Gabe war in seiner Angriffsposition eingefroren, seine Waffe war nur wenige Zentimeter von ihrer Haut entfernt. Sie stieß den Atem aus, den sie vor Schreck angehalten hatte. Das keuchende Geräusch hallte merkwürdig durch den Raum. Sie kroch aus Gabes Reichweite. Dass dabei ihre Handflächen, Knie und Fußsohlen mit dem Blut des Toten rot gefärbt wurden, war ihr egal. Sie richtete sich hinter Gabe auf und berührte ihn leicht an der Schulter.

Das Leben kehrte schlagartig in seinen erstarrten Körper zurück. Seine Attacke ging daneben, weil Azura nicht mehr an ihrem Platz saß. Er erschrak und landete an ihrer Stelle auf dem Boden. Verwirrt sah er zu Azura auf, die direkt vor ihm stand und ausdruckslos auf ihn hinab starrte. In einer Sekunde hatten sie die Plätze getauscht und Gabe verstand nicht, was um alles in der Welt geschehen war. Aber er wusste, dass es gerade nicht gut für ihn aussah.

Er hob die Hand mit seiner Waffe und wischte sich mit dem Handrücken den entstandenen Schweiß von der Stirn. Er wusste nicht, ob die Anstrengung, die Aufregung oder doch die Todesangst, die er empfand, daran Schuld war, dass ihm abwechselnd heiß und kalt wurde. Sein Blick fiel auf den goldenen Dolch in ihrer Faust, der nicht aus dieser Welt zu sein schien. Er wusste, dass er jetzt sterben würde. Und das nur, weil er einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Er dachte, sie wäre unachtsam, schutzlos gewesen, aber er hatte sie unterschätzt. Obwohl er sich geschworen hatte, dass es nie wieder vorkommen sollte, hatte er einen Feind unterschätzt. Er schloss die Augen. Ich werde sterben. Ich will nicht sterben. Einige Augenblicke lang geschah gar nichts. Er wunderte sich. Warum zögerte sie? Er hörte das Rascheln des Stoffs ihrer Kleidung, als sie in die Hocke ging.

"Soll ich dich töten?", fragte sie gefühllos und sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an. Verwirrt schlug er die Augen auf und begegnete ihrem eisigen Blick. "Was?", keuchte er überrascht. Sie wiederholte geduldig ihre Frage und betonte dabei jedes einzelne Wort, als offenbarte sie ihm die größten Geheimnisse, die die Welt zu bieten hatte.

"Soll ich dich töten, Gabriel Richard Pricefield?"

"W-Was? Woher-? Warum fragst du mich das? Ihn hast du doch auch nicht gefragt!", stammelte er fast panisch und sah auf die Leiche seines ehemaligen Befehlshabers. Er hatte Sheriff zwar nie besonders gemocht, aber sein grausamer Tod bestürzte ihn dennoch. Gabe fand es gruselig, dass sie seinen vollen Namen kannte. Woher? Vale hatte ihr den bestimmt nicht gesagt. Als er länger darüber nachdachte, kam er jedoch zu dem Schluss, dass es keinen Sinn ergab, sich noch groß über sie zu wundern. Sie hatte schon weitaus fantastischeres vollbracht. Es war wirklich sehr dumm gewesen sich mit einer Trägerin - einer Aurea - anzulegen. Das sah er jetzt ein. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät für ihn. Ich kann leben.

"Sein Tod war notwendig. Das siehst du doch ein, oder?", fragte sie. Er nickte zögerlich. "Das erklärt aber nicht, warum du mich am Leben lassen willst."
"Hüte deine Zunge, Gabriel, bevor ich es mir doch anders überlege. Dein Tod ist optional, aber ich tue das nicht dir zuliebe, ist das klar? Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann", sagte sie mit einem bedrohlichen Unterton. Ihr Blick fiel auf den Dolch in seiner Hand. Er sah die Waffe ebenfalls an und ließ sie angeekelt fallen. Mit einem Scheppern kam sie auf dem Steinboden auf und drehte sich leicht um ihre eigene Achse.

"Also, kann ich dir vertrauen, Gabriel, oder wirst du mir bei der erstbesten Gelegenheit eine Klinge in den Rücken rammen?", fragte sie. Er antwortete nicht, weil er seinerseits unsicher war. Sie könnte ihn in eine Falle locken wollen. Vielleicht würde sie ihn am Ende doch noch töten. Aber was bedeutete das schon? Sie gab ihm womöglich eine letzte Chance und er wäre wirklich ein Trottel, wenn er diese nicht ergriff.

Sie hob ihre Hand, was ihn zusammenzucken ließ, doch sie legte sie nur an seine verletzte linke Wange. Ihre Berührung war sanft, aber die frische Verbrennung schmerzte trotzdem und er verzog das Gesicht. "Du bist ihm so ähnlich", flüsterte sie und endlich hatte er wieder das Gefühl, dass sie von Mensch zu Mensch mit ihm sprach. Nicht wie eine Jägerin zu ihrer winselnden Beute. Ihre Stimme war auf einmal voller Liebe, Bedauern, Schmerz und etwas Freude. Sie vermisste seinen Bruder wirklich sehr.

Schlagartig realisierte Gabe, dass er seinen Bruder auch schrecklich vermisste.

1.440 Wörter

AnnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt