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Vale hechtete über den Tisch, wobei er sämtliches Geschirr und Besteck davon hinunter fegte, um Azura aufzufangen, die von ihrem Stuhl kippte. Er überprüfte, ob sie wach war, doch sie hing nur regungslos in seinen Armen und atmete schwer. Vorsichtig hob er sie hoch und brachte sie wieder in sein Zimmer, wo er sie auf das Bett legte. Sie bewegte sich unruhig. Wahrscheinlich hatte sie wieder einen Traum, aus dem sie nicht aufwachen konnte. Ihr Gesicht war gerötet und er spürte schon aus einigen Zentimetern Entfernung die Hitze, die von ihrer Haut ausging, ohne sie überhaupt zu berühren. Sie keuchte im Schlaf einmal laut auf und ballte die Hände zu Fäusten. Vale deckte sie besorgt zu und legte einige Tücher auf ihre Stirn, die er mit kaltem Wasser befeuchtet hatte. Das war alles, was er jetzt tun konnte.

Nachdem Azura das Bewusstsein verloren hatte, wachte sie wieder auf der Wiese aus ihrem vorherigen Traum auf. Wieder hörte sie die Stimme aus ihrer Kette: "Aurea, hör mir zu."
"Nein, erstmal hörst du mir zu", unterbrach Azura sie. "Was zur Hölle war das gerade? Was bist du?"
"Ich bin seit Anbeginn der Zeit auf dieser Erde. Mit den ersten Menschen kam meine Bestimmung. Ich helfe einer Auserwählten. Lange war ich vergessen. Ich hatte mich selbst vergessen, bis ich deine Anwesenheit spürte. In deiner Hand kann ich alles sein, was du dir vorstellst, aber ohne meine zweite Hälfte bin ich geschwächt und muss deshalb viel Energie aus dir ziehen. Dein Körper ist an diese neue Belastung noch nicht gewöhnt, deshalb habe ich dich wieder in meine Welt geholt. Hier ist deine Seele unverwundbar und dein Körper kann heilen, Aurea. Wenn du noch weitere Fragen hast, werde ich sie dir beantworten, aber die Zeit drängt. Du bist erst seit wenigen Minuten hier, aber in deiner Welt vergehen dabei Stunden."
"Hast du einen Namen?", fragte Azura, während sie die eben erhaltenen Informationen verarbeitete.
"Nein."
"Du kannst einen von meinen haben", sagte sie scherzhaft. "Ich habe jetzt ja drei." Die Kette hatte leider keinen Sinn für Humor.
"Aurea, unsere Zeit läuft ab. Du musst meine zweite Hälfte finden, damit wir dir mit unsere gesamten Kraft dienen können. Vereine die Hälften, damit auch du deine gesamte Kraft finden kannst."
"Du meinst das andere Artefakt, von dem Vale gesprochen hat?", fragte Azura.
"Ja. Beeile dich. In drei Tagen werdet ihr aufbrechen", sprach der Stern, der vor ihr schwebte.
"Was ist mit meinem Bein? Ich kann so nicht kämpfen", warf Azura ein.
"Wenn du aufwachst, wirst du geheilt sein. Bleib stark, Aurea!"

Damit verschwand die Lichtung und die Kette legte sich wieder auf ihre Haut. Azura dachte, dass sie jetzt aufwachen würde, aber stattdessen waren da wieder die Stimmen, die ihre lange vergangenen Fehler anklagten und ihr vorwarfen, sie sei zu schwach gewesen, um ihnen zu helfen. Sie wollte in die reale Welt fliehen, doch die eisernen Fesseln des Schlafes ließen sie nicht gehen.

Als die Sonne am höchsten Punkt ihrer täglichen Wanderung über den Himmel stand und Azura immer noch nicht wach geworden war, beschloss Vale, nach Informationen zu suchen. Aurea. Die Goldene, dachte er. Er war sich sicher, das Wort schon einmal gehört oder gelesen zu haben, auch wenn er sich nur an seine Bedeutung erinnern konnte. Er ging in die riesige Bibliothek neben seinem Arbeitszimmer und suchte alle Geschichtsbücher und Legenden zusammen, in denen die Bezeichnung vorkommen könnte. Dabei vertraute er vor allem auf sein Bauchgefühl, dass ihn das eine oder andere Buch aus dem Regal ziehen ließ. Am Ende hatte er einen Stapel alter, aber auch neuerer Werke zusammengetragen. Diesen balancierte er auf beiden Händen in sein Arbeitszimmer, wo er die Bücher auf seinem großen Schreibtisch ausbreitete. Er hing an dem Tisch. Das Holz - Mahagoni - kam aus Mittelamerika und der Import und die Tischlerarbeit hatten ihn eine ordentliche Summe gekostet.

Nachdem er für genügend Licht gesorgt hatte, begann er mit einem dicken, in Leder gebundenem Buch. Die gesammelten Legenden des vergangenen Jahrhunderts. Alleine bei dem Titel musste er schon gähnen. Trotzdem arbeitete er sich tapfer Seite für Seite durch den Wälzer, wobei seine Augenlider immer schwerer wurden.

682 Wörter

AnnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt