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"Vale, können wir gehen?", fragte Azura nach einer gefühlten Ewigkeit. "Wohin denn?", fragte er zurück. Er war bereit, ihr überallhin zu folgen. "Nach Hause", wisperte sie. Sie hatte keine Kraft mehr und ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen, also ließ er sie auf seinen Rücken klettern. Huckepack trug er sie zurück in die Stadt. Nach wenigen Minuten schlief sie sogar ein. Das merkte er daran, dass ihr Kopf auf seine Schulter sackte und er von da an ihr gleichmäßiges Atmen und gelegentliches leises Schnarchen direkt neben seinem Ohr hören konnte. Er musste lächeln.

Im Unterschlupf legte er sie in sein Bett und weckte sie vorsichtig. "Mmm", machte sie unzufrieden und wollte seine Hand von ihrer Schulter wischen. "Du kannst gleich weiterschlafen. Wir müssen uns nur um deine Verletzungen kümmern. Kannst du dich heilen, oder so?" Sie schüttelte zögernd den Kopf und sah müde zu ihm auf. In ihrem Zustand traute sie sich solch ein Kunststück nicht zu. Vale zu heilen hatte unheimlich viel Kraft gekostet. "Na gut, dann eben auf die klassische Weise. Setz dich hin", kommandierte er. Sie schälte sich aus ihrer Rüstung, sodass sie nur noch in dem schwarzen Einteiler auf der Bettkante saß. Vale untersuchte kurz die Rüstungsteile, aber sie waren nicht besonders stark beschädigt. Nur der eine oder andere Kratzer von ihrem abenteuerlichem Sturz den Hang hinab. Sie krempelte Ärmel und Hosenbeine hoch, damit er ihre Wunden besser erreichen konnte. Er bewaffnete sich mit sterilen Tüchern, Verbänden und Reinigungsalkohol. Von diesen Dingen schien er einen unendlichen Vorrat zu haben. Er desinfizierte alle Schnitte und Schürfwunden, was ihr einige schmerzvolle Laute und gezischte Schimpfworte entlockte. Die kleineren ihrer Wunden hatten sich schon geschlossen und waren sogar schon beinahe verheilt. Vale hatte keine Ahnung, wie das sein konnte. Aber sie hatte schon größere Wunder vollbracht, also dachte er nicht groß darüber nach. Die schlimmsten ihrer Verletzungen, wie ein tiefer Schnitt auf ihrem Handrücken und eine großflächige, blutende Schürfwunde auf ihrem Unterarm, verband er leicht. Dann besah er ihren rechten Knöchel, der ihr die größten Schmerzen bereitete.

"Du hast Ahnung", sagte sie anerkennend. Er sah zu ihr auf und grinste schief. "Ich würde es eher als Erfahrung bezeichnen. Ich und mein-", er unterbrach sich. "Ich bin in meinem Leben schon in sehr viele Schwierigkeiten geraten und musste schon die eine oder andere Verletzung versorgen. Aber es stimmt schon, ich interessiere mich wirklich für solche Dinge." "Was für Dinge?", fragte sie. "Biologie, Anatomie, Medizin, sowas eben", sagte er knapp und wandte sich wieder ihrem Knöchel zu, der zwar leicht angeschwollen und gerötet war, aber die Knochen waren glücklicherweise intakt. "Er ist nur verstaucht. Wenn du ihn nicht zu stark belastest, sollte es dir bald wieder gut gehen", diagnostizierte er. "Sehr gut. Danke", seufzte sie. "Keine Ursache", sagte er und stand auf, nur um sich dann neben ihr auf sein Bett fallen zu lassen. "Was für eine Nacht", murmelte er. Sie nickte und gähnte.

Plötzlich ergriff eine eigenartige Panik von ihr Besitz, die aus dem Nirgendwo zu kommen schien. Ihre Atmung beschleunigte sich und ihr Herz raste mit ihren Gedanken um die Wette, während sie fieberhaft nach dem Grund für dieses Gefühl suchte. Vale merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. "Was ist los?", fragte er und legte eine Hand auf den Griff des Schwertes an seinem Gürtel. Azura wusste es nicht. Was war los?

Dann traf es sie wie ein Schlag in den Magen. "Der Bogen", keuchte sie. "Wo ist das Artefakt?", fragte sie in den Raum und tastete schnell alle ihre Taschen ab, doch sie wusste, dass sie das goldene Stück dort nicht finden würde. "Oh nein", flüsterte er tonlos. "Sag jetzt nicht, dass du es am Baum liegen gelassen hast", sagte er aufgebracht und starrte sie wütend an. Sie nickte schuldbewusst und zog den Kopf ein. Seine Reaktion war wie erwartet. "Das kann nicht dein Ernst sein!", brüllte er und sprang auf. "Es tut mir leid", erwiderte sie niedergeschlagen. "Das bringt uns jetzt auch nichts!" Er war außer sich vor Wut. "Ich geh es ja schon holen!" Sie stand auf und ignorierte dabei den Schmerz in ihrem Fuß. Der Verband, den Vale angelegt hatte, stützte sie gut genug, sodass sie einigermaßen gut laufen konnte.

So schnell sie konnte, stürzte sie aus dem Schlafzimmer. "Spinnst du?! Du kannst doch nicht einfach wegrennen!", rief er ihr nach und verfolgte sie. Oh doch, dachte sie und wirbelte wutentbrannt herum. Sie streckte ihren Arm aus, als wollte sie ihn mit seiner Handfläche aufhalten. Er riss die Augen auf und kam schlitternd vor ihrer Hand zu stehen. Dort bildete sich eine gebündelte Lichtkugel, die sich aus goldenen Funken zusammensetzte, die aus allen Richtungen rasant zu Azuras Hand strömten. Geblendet kniff er die Augen zusammen, sah aber weiterhin zu ihr. Als das Licht wieder verschwunden war, hielt Azura mit einem triumphierenden Lächeln ihren Bogen in der Hand. Die Klingen an seiner Vorderseite waren direkt vor seinem Gesicht und zeigten genau auf seine beiden Augen. Ein Schritt von Azura in seine Richtung und er wäre blind. Oder Schlimmeres. Erst jetzt erkannte Vale die Runen, die in das Gold eingraviert waren. Zeichen wie diese hatte er noch nie gesehen und er hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten. Azura wusste es wahrscheinlich auch nicht.

Erst war sie ebenso überrascht wie er, doch dann fing sie sich und ließ den Bogen schrumpfen, bis sie ihn als ihre altbekannte Kette um den Hals legen konnte

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Erst war sie ebenso überrascht wie er, doch dann fing sie sich und ließ den Bogen schrumpfen, bis sie ihn als ihre altbekannte Kette um den Hals legen konnte. "Mach das mal nach", neckte sie. "Ich bin beeindruckt", gab er zu. Sie lächelte triumphierend. "Aber das ist unglaublich nützlich! Du wirst nie wieder unbewaffnet sein!", freute er sich. Sie nickte. "Wir haben es echt geschafft", sagte sie dann.

Es fiel ihr immer noch schwer, zu glauben, dass sie soeben eines der wertvollsten antiken Artefakte aus einer hochbewachten Turmkammer gestohlen hatte. Und noch dazu schien sie jetzt magische Kräfte zu haben. Sie wurde zwar niemals gefragt, ob sie damit einverstanden war, aber so lief es eben nicht. Man wurde nicht gefragt, sondern musste sich eben den Umständen anpassen. Eines Tages würde ihr das auch gelingen, denn sie war sehr anpassungsfähig. Sie würde lernen, mit den Dingen richtig umzugehen, die eben passierten. Sie spielte mit dem Anhänger ihrer besonderen Kette und sah dann zu ihrem Gefährten. Als sie in seine leuchtend grünen Augen sah, spürte sie nichts als Zuneigung für ihn. Nur ganz tief in ihrem Inneren glühte ein schwacher Funke des Misstrauens, der wohl nie ganz erlischen würde. Trotzdem würde sie ihm widerspruchslos überallhin folgen und sogar ihr Leben für ihn geben. Sie wusste, dass er dasselbe für sie täte, sollte es denn notwendig sein.

1.091 Wörter

AnnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt