44

80 9 10
                                    

Stolz stemmte Azura vor der Tür der Waffenkammer die Fäuste in die Hüften und präsentierte Vale ihre neue Rüstung. Seine Augen leuchteten auf, als er sie sah. Azura war sich nicht sicher, ob es an ihr oder der ledernden Rüstung lag. "Unglaublich", sagte er. "Jetzt siehst du genauso stark aus, wie du es wirklich bist."
"Und das alles nur dank dir. Ich wusste nicht dass du so nett sein kannst", neckte sie ihn. Er grinste. "Kannst du mir einen Gefallen tun?", fragte er plötzlich. "Worum geht's denn?", fragte Azura und strich über die akkurat zugeschnittenen Gänsefedern eines Pfeils, der in dem Köcher an ihrer Hüfte steckte. "Zeig mir, wie du schießt", bat Vale sie. Verwundert sah sie auf. "Warum denn das?"
"Ich habe diesen Bogen schon seit Jahren, aber ich konnte ihn noch nie in Aktion sehen", erklärte er.

Azura nickte verstehend und nahm den Bogen von ihrem Rücken. Sie drehte sich um. Gegenüber von ihr, etwa 30 Meter entfernt, standen drei Zielscheiben nebeneinander aufgereiht. Sie zog einen Pfeil aus dem gefütterten Köcher und spannte ihn in den Bogen. Sie zog die Sehne zurück und zielte genau auf den schwarzen Punkt in der Mitte der ersten Zielscheibe. Sie atmete tief durch und ließ den Pfeil fliegen. Als er sich in das Zentrum der Zielscheibe bohrte, hatte sie bereits einen weiteren Pfeil eingespannt und abgeschossen. Sie machte einen schnellen Hechtsprung nach rechts und rollte sich ab. Noch in der Hocke feuerte sie auf das dritte und letzte Holzbrett mit den aufgemalten roten Kreisen, welches als Zielscheibe diente. Zufrieden richtete Azura sich auf und sprintete zum anderen Ende des Trainingsplatzes, um die drei Pfeile einzusammeln. Alle hatten ins Schwarze getroffen, bis auf den letzten, der sich einige Zentimeter nach rechts verirrt hatte. Vorsichtig, um sie nicht zu beschädigen, zog sie die Pfeile aus dem Holz und kehrte zu Vale zurück, der sie beklatschte. Ein Applaus von nur einer Person hörte sich zwar etwas lächerlich an, sie verbeugte sich aber trotzdem leicht und gab ihm zum Dank einen Kuss auf die Wange. Sofort errötete er leicht.

"Danke, Vale. Du bist der Beste", flüsterte sie. "Das weiß ich doch", erwiderte er. "Angeber." Er grinste entschuldigend. "So bin ich eben." Sie sah ihm tief in die Augen. Er wusste, dass sie dort mehr sah, als alle anderen vor ihr. Es war fast, als könnte sie in seine Seele sehen. Das verunsicherte ihn. Schnell wandte er den Blick ab. "Du musst dich nicht verstecken. Wir haben alle eine Last zu tragen", sagte sie traurig und nahm seine Hände, doch er entzog sie ihr wieder. Seine Augen brannten. Was passierte nur mit ihm? "Bitte... geh", brachte er trotz seiner zugeschnürten Kehle heraus und versteckte sein Gesicht hinter den Handflächen. Sie trat einen weiteren Schritt auf ihn zu. "Lass mich dir helfen. Bitte, ich-" "Geh!" , rief er und schubste sie zurück. "Eines Tages, Vale. Ich gebe nicht auf." Mit diesen Worten ließ sie ihn alleine. Schwer atmend und mit vernebelter Sicht stolperte er in Richtung seines Schlafzimmers. Dort angekommen fiel er auf sein Bett und ließ seinen Gefühlen freien Lauf, bis er erschöpft einschlief, obwohl es erst früh am Nachmittag war.

Die Sonne brannte heiß auf seinen Rücken. Er lag mit dem Gesicht nach unten im Sand der Wüste. Stöhnend richtete er sich auf und spuckte die kleinen Sandkörner aus, während er sich umsah. Er stand auf einer hohen Düne, die von etlichen anderen umgeben war. Alles sah gleich aus, wohin er auch schaute. Weit und breit war nichts als gelber Sand und blauer Himmel zu sehen. Die Farbe des Himmels über ihm erinnerte ihn an irgendetwas, doch er konnte es nicht genau einordnen. Heißer Wind zerzauste sein Haar und wehte ihm mehr Sand in die Augen. Schützend hob er seinen Arm vor sein Gesicht. Er musste husten. Seine Kehle war so trocken und rau wie der Sand überall um ihn herum. Wenn er überleben wollte, brauchte er Wasser. Er wusste nicht wie oder von wo er hier her gekommen war, aber er wollte nicht sterben, also musste er dringend trinken und Schutz vor der brennenden Sonne suchen. Hinter ihm erhob sich am Horizont eine dunkle Staubwolke. Dort braute sich ein Sandsturm zusammen, also lief er einfach in die andere Richtung los. Etwas Sand löste sich von dem Kamm der Düne, auf der er stand. Halb sitzend rutschte er den hohen Sandberg hinab. Unten fiel es ihm schwer, sich wieder aufzurichten. Er stolperte weiter geradeaus, in der Hoffnung, eine Oase zu finden, oder auf eine Karawane zu stoßen. Immer weiter lief er durch die endlos scheinende Wüste und begegnete dabei nicht mal einer Ameise. Seine Bewegungen und Gedanken wurden immer träger und er spürte, wie seine Lebensenergie schwand, bis er schließlich im Sand stolperte und fiel. Er stand nicht wieder auf, obwohl er wusste, dass er sterben würde, wenn er nicht bald etwas zu trinken fand.

Plötzlich spürte er die sanfte Berührung einer Hand auf seinem Rücken und sah kraftlos auf. Verschwommen sah er vor sich eine junge Frau, die im Sand hockte und besorgt auf ihn hinab sah. Sie sah aus wie eine Göttin mit Augen, die so azurblau wie der Himmel über ihnen waren. Ihr kurzes, dunkelblondes Haar wehte ihm Wüstenwind, der den Sandsturm zu ihnen peitschte.

"Lass mich dir helfen", sprach sie.

Ihre Stimme ließ ihn all seine Sorgen vergessen und eine untragbare Last fiel von ihm ab. Er fühlte sich bei ihr sicher und geborgen. Sie stand auf und streckte eine Hand aus, um ihm hoch zu helfen, während der Wind stärker wurde. Ihre Fingerspitzen bröselten und in ihrem Gesicht breiteten sich Risse aus. Immer schneller wehte der Sturm, bis auch seine Göttin sich in Staub auflöste, und davongerissen wurde. Er sah ihr mit schmerzendem Herzen nach, bis auch er von dem Sturm in tiefe Dunkelheit gestürzt wurde.

Ihre vier Worte hallten in seinem Kopf wieder, als er in schwarzer Unendlichkeit fiel und fiel. Die Schwärze schien bodenlos, bis unter ihm ein feiner Lichtschimmer erschien. Er kam dem Licht immer näher, bis ein Boden erkennbar wurde, der mit langen, spitzen Metallstacheln übersät war. Jeder von ihnen war so lang wie er groß war. Er schrie vor Schmerz laut auf, als die Spitzen sich überall in seinen Körper bohrten.

"Du musst dich nicht verstecken."

Das Letzte, was er sah, bevor er starb, war ein Paar goldgesprenkelter, blauer Augen, die ihn seinen Schmerz vergessen ließen und ihn in den Tod begleiteten.

1.065 Wörter

AnnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt