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Azura wurde durch das stetige Geräusch von Wassertropfen, die auf Stein prallten, geweckt. Sie fühlte den stechenden Schmerz in ihrer Schulter schon bevor sie es überhaupt schaffte die Augen zu öffnen. "Verdammte Scheiße", murmelte sie und riss die Augen auf. Ihr Kopf war nach unten geneigt, sodass sie als erstes den Boden sah. Er war aus großen Steinziegeln und hatte eine merkwürdige rostrote Farbe. Sie begriff, dass es Blut sein musste. Ihr Blut? Sie wusste es nicht. Sie kniete auf dem kalten nassen Boden. Hinter ihr war eine Wand, in die zwei Ketten geschlagen waren, die ihre Arme über ihrem Kopf festhielten. Eine sehr unangenehme Position, da die Streckung ihrer Arme ihre Schulter belastete. Jede noch so kleine Bewegung jagte eine starke Welle des Schmerzes ihren Arm hinauf und durch ihren gesamten Rücken. Sie biss die Zähne zusammen, konnte ein schmerzerfülltes Aufstöhnen aber nicht verhindern. Ihre Haare hingen ihr in wirren Strähnen in die Stirn. Ihr Körper war notdürftig mit einem groben sackartigen Leinenkleid bedeckt, das ihr nicht mal bis zu den Knien reichte und keine Ärmel hatte. Vorsichtig sah sie auf und blickte sich um. Sie war in einem kleinen Raum mit drei Wänden aus Stein. Gegenüber von ihr war ein Metallgitter mit dicken Streben und einer Tür. Hinter ihr musste ein vergittertes Fenster sein, denn ein durchbrochenes Rechteck aus silbernem Mondlicht fiel vor ihr auf den Boden. Sie zählte genau vier Gitterstäbe,die ihren Schatten vor sie warfen.

Das war eine Zelle. Sie saß im Gefängnis und lag in Ketten. Ein beklemmendes Gefühl umfing sie. Sie hatte nie viel besessen, aber ihre Freiheit hatte ihr niemals jemand nehmen können. Bis jetzt. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass sie nicht mehr gehen konnte, wohin sie wollte. Immerhin konnte sie sich so hinsetzen, dass sie die Beine ausstrecken konnte. Jetzt waren ihre Arme zwar noch gedehnter, doch die Kälte der Wand betäubte den Schmerz in ihrem Rücken. Was war eigentlich passiert? Warum tat ihr alles weh? Und wie lange war sie bewusstlos gewesen? Sie sah so gut es ging an sich herab und suchte nach weiteren Verletzungen. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

Die gesamte rechte Hälfte ihres Körpers war von Schnitt- und Schürfwunden übersät. Sogar in ihrem Gesicht konnte sie die Verletzungen jetzt spüren. Die Haut um die Wunden war gerötet und spannte. Es war alles entzündet. Mit ihrem Glück würde sie sich eine Blutvergiftung einfangen und daran verrecken, bevor Gabe oder Sheriff dazu kamen, sie aus dem Weg zu schaffen. Bis jetzt sah alles noch halbwegs gut aus, aber die Verletzungen waren auch noch recht frisch. Sie schätzte ihr Alter auf ungefähr fünf Stunden. Sie waren schon getrocknet und bluteten nicht mehr, aber jetzt war sie sich sicher, dass das Blut auf dem Boden von ihr stammte. Sie stellte außerdem fest, dass ihr Hals ziemlich trocken war. Das bedeutete, dass sie schon lange nichts mehr getrunken haben musste. Sie ächzte und lehnte ihren Kopf an die Wand in ihrem Rücken. Was war mir diesen höllischen Schmerzen in ihrer Schulter? Wo kamen die her? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Ihre Chancen auf eine erfolgreiche Flucht standen denkbar schlecht. Um nicht zu sagen, dass es absolut unmöglich war. Und sie konnte sich auch nicht darauf verlassen, gerettet zu werden. Vale wusste vermutlich nicht wo sie war. Sie wusste es ja selbst nicht. Also hieß es abwarten.

"Hallo?", rief sie in die Stille ihres unbekannten Aufenthaltsortes. Sie bekam keine Antwort. Draußen hörte sie Flügelschläge eines kleinen Vogels. Sie rief noch einmal lauter, aber wieder gab es keine nennenswerte Reaktion außerhalb ihrer Zelle. Sie beobachtete das Wasser, das neben ihr von der Decke tropfte. Wahrscheinlich war es ein Überbleibsel des letzten Regens. Auf dem Boden sammelte es sich in einer kleinen Vertiefung. Irgendwann war die Kuhle voll und lief über. Ein schmales Rinnsal bildete sich und floss nach links, weg von ihr. Scheinbar war der Boden leicht in diese Richtung geneigt, aber mit dem bloßen Auge konnte man dies nicht erkennen. Das gleichförmige Platschen ließ ihre Lider schwerer und ihre Gedanken träger werden. Sie fragte sich noch, wohin das Wasser wohl verschwand, denn die linke Ecke des Raumes befand sich außerhalb ihres Blickfeldes, und mit dieser ungeklärten Frage schlief sie schließlich ein.

Ihr Schlaf war unruhig und ihre Träume wirr. Sie erlebte verschiedene Szenen ihrer Vergangenheit wieder. Auch solche, die sich erst vor wenigen Tagen ereignet hatten. Sie träumte von Vale, der sie festhielt und küsste, dann wurde alles weiß. Sie schwebte aufrecht in diesem bodenlosen leuchtenden Nichts. Ihre Haut war unberührt und seidig, doch sie trug immer noch das grobe Leinenkleid. Aus dem Nebel, der sie umgab, tauchte auf einmal Vale auf. Er rannte auf sie zu und sah aus, als wäre er vor irgendetwas oder irgendwem auf der Flucht. Er kam immer näher, doch er sah sie nicht und rannte einfach durch sie hindurch. Als er sie berührte, verschwand das Nichts und wich dem brennenden Schlachtfeld, das sie schon einmal in einem früheren Traum gesehen hatte. Sie wandte den Blick von Vale ab und sah in die andere Richtung. Jetzt wusste sie, wovor er floh.

Hinter ihm rannte eine übergroßer Gestalt in einem schwarzen Mantel. In der Hand hielt sie eine riesige zweischneidige Axt, die sie wütend schwang. Vale rannte weiter, aber die Gestalt kam ihm immer näher und schließlich schlug sie zu. Sie traf ihn genau auf den Kopf und spaltete ihn von oben nach unten in zwei Hälften. Azura schrie auf. Vale kippte zur Seite. Oder eher zu beiden Seiten. "Nein!", kreischte sie immer wieder, bis sich die Gestalt im Mantel, die aussah wie der Tod höchstpersönlich, zu ihr umdrehte und mit einem goldenen Finger auf sie zeigte. "Das war erst der Anfang. Du bist die Nächste", sagte sie mit einer Stimme, die Azura das Blut in den Adern gefrieren und ihre Ohren klingeln ließ. Denn es war ihre eigene. Dann löste die Gestalt sich in goldenen Staub auf, der sich zu einem Strahl bündelte und auf Azura zuschoss. Er traf sie mitten in die Brust, was ihr den Atem nahm und vor grausamen Schmerzen aufschreien ließ.

Azura erwachte schreiend. An ihrer Stirn klebte Schweiß und zu ihrer großen Überraschung lag sie auf dem Steinboden. Jemand musste im Schlaf ihre Fesseln gelöst haben. Sie rieb sich ihre befreiten Handgelenke und setzte sich auf. Inzwischen war es Sonnenlicht, das auf den Zellenboden fiel. Sie stand vorsichtig auf und streckte sich trotz der starken Schmerzen in ihrem Körper. Überrascht stellte sie fest, dass sich einige der Schürfwunden bereits wieder geschlossen hatten. "Was zum... Das kann doch gar nicht sein", murmelte sie. Sie hob ihren rechten Arm und sah ihn genauer an. Bei einer größeren Schürfwunde fiel ihr auf, dass die Wundränder leicht golden schimmerten. Sie konnte förmlich dabei zusehen, wie sich neue Haut bildete und über die abgeriebenen Stellen legte. "Verdammt", murmelte sie anerkennend und beobachtete das Schauspiel noch eine Weile lang in absoluter Faszination. Es juckte etwas, doch das war es Azura wert.

Sie machte einige Kniebeugen und Dehnungsübungen, um die Zeit totzuschlagen. Da ihr linke Schulter nicht einsatzbereit war, machte sie ihre Liegestütze heute nur auf der rechten Hand. Früher hatte sie diese kleine Routine jeden Morgen durchgeführt, um in Gang zu kommen und gleichzeitig ihren Körper zu stählen. Jetzt hatte sie nichts besseres zu tun und ihr war langweilig. Es konnte ja nicht schaden, in Form zu bleiben. Sie machte fünfzehn Liegestütze, gönnte sich eine kurze Pause und machte nochmal fünfzehn. Das ganze wiederholte sie so lange, bis ihr Arm brannte und ihre Muskeln zitterten. Sie wischte sich die entstandenen Schweißperlen von der geröteten Stirn und lief in der kleinen Zelle im Kreis, bis ihr schwindelig wurde. Dann drehte sie sich um und lief in die andere Richtung, bis sie nicht mehr geradeaus gehen konnte. Sie sank auf den Boden und kühlte ihre erhitzte Haut an dem rauen feuchten Stein der Wand. Eine Weile lang hörte man nur ihr Atmen und ihren Herzschlag, bis ihr knurrender Magen die annähernde Stille durchbrach. Ihr fiel ein, dass sie seit ungefähr vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte.

Sie fand einen kleinen Kiesel in einer Ecke ihres Zimmers. Gähnend setzte sie sich so an die Rückwand der Zelle, dass sie das Gitter mit der Tür im Blick hatte. Sie warf den Stein hoch, fing ihn und warf ihn wieder hoch. Fangen, werfen, fangen, werfen. Das wiederholte sie pausenlos. Fangen, werfen, fangen. Das einzige, was sich jedes Mal änderte, war die Wurfhöhe des Kiesels und dadurch auch die Zeitspanne, die er in der Luft verbrachte. Werfen, fangen, werfen, fangen, werfen. Sie versuchte, sich auf die gleichmäßige Handlung zu konzentrieren, doch ihre Gedanken drifteten immer wieder ab. Fangen, werfen, fangen, werfen, Vale. Nein, fangen, werfen, Vale. Mist. Der Stein landete auf dem Boden zwischen ihren ausgestreckten Beinen. Sie vermisste Vale und machte sich schreckliche Sorgen um ihn, obwohl es ihm im Moment wahrscheinlich weitaus besser ging, als ihr selbst. Ihr Traum hatte sie aufgewühlt. Sie wusste nicht ganz, was er zu bedeuten hatte. Hoffentlich war er einfach nur ein schrecklicher, unlogischer Albtraum gewesen und hatte keine tiefere Bedeutung für ihn oder sie.

1.515 Wörter

AnnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt