Kapitel 12: Notlüge

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Mit breitem, erwartungsvollem Lächeln schaut er zu ihr hinauf. Der kleine Junge an der Hand seiner Mutter kann es kaum erwartet, sich von ihr losreißen zu können. Nicht, weil er unbedingt von ihr loskommen will, eher, weil es bereits eine Ewigkeit her zu sein scheint, dass er einfach nur Kind sein konnte. Deshalb sind Mutter und Sohn auch auf den Spielplatz gegangen, wo sie so lange nicht mehr gewesen sind. Vorher hat sich die Frau viel zu viele Sorgen um ihren Sohn gemacht, um auch nur einen Schritt vor die Tür zu setzen.

Nervös wischt sich die junge Frau eine ihrer hellen Haarsträhnen aus dem Gesicht, während ihr Blick prüfend über den im Nebel liegenden Spielplatz schweift. Die Welt um sie herum verendet in endloser Stille. Nicht einer ist an diesem eisigen, wolkenlosen Wintermorgen außer ihnen hier. Stahlblau drückt der Himmel auf die Erde nieder wie eine solide, alles erstickende Decke, die die Frau dennoch aufatmen lässt. An diesem Ort, der sie eigentlich nur ängstigt und besorgt, fühlt sie sich plötzlich fast schon sicher, ohne genau zu wissen warum. Hätte sie auch nur schemenhaft einen Fremden in den wabernden, bleiernen Schwaden gesehen, hätte sie den Jungen sofort weg von diesem Ort gebracht, sich stumm schwörend, nie wieder einen Blick zurückzuwerfen. Zu sehr ist sie darauf bedacht, kein noch so kleines Risiko einzugehen.

Die junge Frau denkt einfach immer noch wie ein ängstliches Kind – die Welt kommt ihr immer noch viel zu groß und viel zu gefährlich vor. Schließlich hatte man sie in ihrer Kindheit von allem ferngehalten, da ihre Eltern genauso gedacht haben und jede Kleinigkeit als Lebensgefahr ansahen. Andere Kinder, öffentliche Verkehrsmittel, Urlaube, manchmal sogar Spaziergänge in naher Umgebung. Als Kind wurde Yasmin ständig überwacht. Es gab kein Rausgehen, keine äußerliche Veränderung, wie Haarfarbenwechsel oder ähnliches. Auch das Innere schien sich nicht bemerkenswert weiterzuentwickeln. Zwar wuchs das Wissen, jedoch blieb der Verstand immer auf der Stufe eines verängstigten Kindes, das nichts kannte und nichts lernen durfte. Soziale Kontakte bestanden einzig aus Mitschülern und Familie; die wenigen Freunde, die sie über die Zeit hin gehabt hat, wurden von den Eltern auf ihre Eigenheiten und Unarten hin analysiert und ihr madig gemacht, bis ihre Tochter schließlich vollkommen allein zurückblieb.

Der einzige Ort, der sie von all der Einsamkeit und der Angst vor der Welt vorübergehend befreien konnte, war eine kleine Hütte inmitten eines winzigen, lichten Waldstücks gewesen. Ihr Onkel hat sie dem Mädchen damals gezeigt. Er war der Einzige, der sie damals hat in die Welt hinausführen dürfen. Dieser Onkel konnte seine Nichte zwar nur etwa dreimal im Jahr besuchen, doch jedes Treffen war etwas Besonderes. Nicht einer kannte diesen Ort, also gehörte er ihnen allein. Es war, als würde sie jedes Mal mit einem einfachen Schritt in diese kleine Hütte eine völlig neue Welt betreten. Ohne Angst, ohne Einsamkeit und ohne das eigene fehlerhafte Selbst. Yasmin konnte endlich jemand anderes sein. So viel Magie ging von diesem winzigen Fleckchen Erde aus, der für andere komplett unscheinbar sein musste.

Selbst als ihr Onkel an Krebs erkrankte und die Besuche noch seltener als ohnehin schon wurden, fand das Mädchen seinen Weg zu ihrer eigenen kleinen Welt. Sie kam sich vor, als könnte sie alles beherrschen und zerstören, wenn sie es gewollt hätte. In dieser Hütte war sie sicher – hier wäre niemand gewesen, der sie zurück in ihren kargen Alltag werfen wollte.

So glücklich war Yasmin an diesem Ort voller Magie gewesen; doch letztendlich muss jede Ära der Freude enden. Die Hütte verschwand aus ihrem Leben. Von einem auf den anderen Tag war das Häuschen einfach weg gewesen – vermutlich abgerissen von dem rechtmäßigen Besitzer des Gebäudes, der keine Ahnung von deren Magie hatte. Das Mädchen war zwar älter geworden, ihr Onkel war tot, ihre Eltern übten nun weniger Druck auf sie aus, doch die Einsamkeit blieb. Erst recht, da nun der einzige Ort, der sie noch hätte retten können, dem Erdboden gleich gemacht worden ist. Es hat keinen Halt mehr gegeben. Nur noch die reine, alles verschlingende Angst vor der Welt, die sie immer mehr in Besitz genommen hat. So viel Schreckliches passiert Tag für Tag auf diesem nach außen hin so ruhigen Planeten. Vergewaltigungen, Entführungen, Folterungen, Morde. So viel, wovor sie ihren kleinen Sohn beschützen muss.

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