Der Wagen beschleunigt kontinuierlich – immer mehr Weg wird in immer kürzerer Zeit zurückgelegt. Mit starrem Blick, der sich direkt auf die Straße richtet, und verspannter Haltung sitzt Curtis hinter dem Lenkrad und treibt seinen geliehenen Wagen zu Höchstleistungen an. Die Geschwindigkeitsanzeige hat er längst aus den Augen verloren, da es ihm im Moment gar nicht schnell genug gehen kann. Alles, was er weiß ist, dass sich der kleine bewegliche Pfeil immer mehr dem rechten Ende der Anzeige nähert. Vermutlich ist der Motor kurz vor dem Versagen. Doch es ist dem Bestatter gleichgültig. Er will einfach nur weg von hier.
Nach der letzten Beerdigung hat Curtis entschieden, dass er das alles nicht mehr aushält. Also hat er seinen eigenen Wagen, der immer noch auf seinen alten Namen läuft, am Friedhof stehen lassen und sich mit seiner neuen Identität einen Leihwagen geholt, damit auch ja niemand auf die Idee kommen kann, ihn über sein Kennzeichen aufzuspüren.
Es ist dem Dunkelhaarigen einfach zu viel geworden. Diese Stadt scheint seit diesem einen schicksalhaften Tag immer mehr zu schrumpfen, bis sich Curtis so eingeengt vorkommt, dass er einzig und allein wie erstarrt stehen bleiben und sein Leben an sich vorbeiziehen sehen kann. Der Bestatter hasst diese Art von Begrenzungen. Ihm ist es gleich, ob man ihm den freien Willen nimmt, doch seine Bewegungsfreiheit sollte unter keinen Umständen angefochten werden. Mit der Krähe im Nacken hat der Bestatter keinerlei Privatsphäre mehr und kann keine Sekunde lang nur für sich sein, da er seinem Herren stets zur Verfügung stehen muss. Dieser konstante Stress ist einfach zu viel auf Dauer. Curtis spürt richtig, wie diese Beziehung ihn Stück für Stück mehr kaputt macht.
Er braucht einen Neuanfang. Fernab all dieser grauenvollen Erinnerungen an seine Taten und die hier verbrachten Jahre. Fernab seiner Gedanken an Gefängnisse, Tote und diesen Mann, der ihn einfach nicht loslässt. Es muss einfach eine neue Stadt mit neuen Menschen, neuen Häusern und neuen Möglichkeiten sein. Curtis wird sein zweites Leben unter falschem Namen beginnen, in der Hoffnung, dass die Vergangenheit ihn niemals einholen wird.
Zu viel ist geschehen. Nur sehr knapp ist der Bestatter einer Gefängnisstrafe entgangen und so viele Menschen sind mittlerweile durch seine Hand gestorben. Und alles nur auf Kosten eines wahnsinnigen Mannes, der es liebt, Druck auf andere auszuüben und für den Curtis dennoch eine unerklärliche Sympathie empfindet. Es kommt ihm vor, als würde die Krähe bereits seit Jahren an seiner Seite sein, ohne dass er ihn bemerkt hätte. Als hätte er sein gesamtes Leben mit ihm verbracht, auch wenn er selbst nichts davon weiß. Crow ist wie ein alter Freund, der nach Jahren wieder auftaucht und doch nicht derselbe wie damals ist.
Der Dunkelhaarige schüttelt kaum merklich mit dem Kopf, ohne den Blick auch nur einen Moment lang von der Straße zu lösen. Einzelne Locken fallen ihm ins Gesicht und schränken seine Sicht etwas ein. Den Mann kümmert es nicht im Geringsten. Seine Hände umklammern weiterhin das dunkle Leder des Lenkrads. Seine Gedanken dürfen nicht abweichen. Crow soll nicht immer wieder mit seiner bloßen Existenz jeglichen verfügbaren Raum in seinem Kopf einnehmen. Er darf einfach keine Kontrolle über jeden noch so kleinen Teil von Curtis' Existenz haben. Er muss an seinen Neustart denken. Und dabei seinen Blick auf der Straße lassen, um seine Chance auf ein neues Leben nicht gleich in Tod und Verderben enden zu lassen.
Schon kommt das Ortsschild in Sicht, das Curtis verkündet, dass er diese verfluchte Stadt endlich hinter sich lassen kann, als der Bestatter neben sich das Surren seines Handys vernimmt. Verschreckt zuckt er zusammen. Will Crow ihn aufhalten? Er überwacht Curtis. Niemand hat immer wieder solch ein perfektes Gefühl für einen unerwarteten Auftritt. Dabei ist er doch so kurz davor gewesen, die Schreckensherrschaft der Krähe endlich hinter sich zu lassen. Der Dämon kann nur in den Grenzen von St. Albans verkehren, als hätte er Curtis niemals einholen können, hätte er diese magische Grenze überschritten.
Resigniert seufzend geht der Bestatter runter vom Gas und fährt an den Straßenrand, um die Nachricht, die ohne Zweifel von seinem Herren stammen wird, zu lesen.
So greift er nach seinem Handy und betrachtet die geschriebenen Worte, die nach einigen Sekunden auf dem Bildschirm aufleuchten.
Fahr sofort zu Milligans Haus und warte dort auf mich.
Verwirrt runzelt der Dunkelhaarige die Stirn, starrt für einige Sekunde auf die kontextlose Nachricht und fragt seinen Auftraggeber schließlich, worauf er denn nun dort genau warten sollte. Die Antwort kommt prompt, und löst die Verwirrung keineswegs auf:
Dass die Polizisten mich nach draußen führen.
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Post Mortem
Mystery / ThrillerWie mordet man, sodass alle Welt es mitbekommt, aber doch niemand den Täter kennt? Seit fünf Jahren macht dieser Mann dasselbe. In unregelmäßigen Abständen verschwinden Leute und tauchen einige Zeit später als Leichen wieder auf, die er immer wieder...