Nachdenklich lässt Robert seinen Blick über die Straßen dieser einst so farbenprächtigen und nun unter dem Staub der Zeit begrabenen Stadt schweifen. Seine Schritte hallen geräuschlos und stumpf auf dem Asphalt wider. Stur starrt der Dunkelhaarige dabei geradeaus. Zurückblicken will er nicht, denn dort ist nichts mehr, was noch von Interesse für ihn wäre. Milligan hat seinen letzten Auftrag in den Sand gesetzt, das ist ihm klar. Rückgängig wird er es auch nicht machen können, aber er hat diese dummen Vorschriften einfach brechen müssen, um zufrieden mit sich selbst sein zu können. Lieber ist Robert er selbst und ausgestoßen als sich für ein paar Almosen zu verbiegen.
Auf jeden Fall ist er am Ende. Oder doch nicht? Vielleicht kann der Buchhalter nun allein weitermachen. Immerhin hat er über die Jahre einige wenige Indizien gesammelt, die die Behörden zwar unter Verschluss halten, aber nicht aus seinem Gedächtnis haben löschen können. Nicht mehr auf den Staat hören zu müssen und ganz nach seinen eigenen Regeln arbeiten zu können, klingt für Robert beinahe wie das Paradies. Aber auch nur beinahe.
Wie sollte er auch schon einen so riesigen Fall ohne Hilfe lösen können? Als Robert noch bei der Polizei gewesen ist, hat er zumindest so etwas Ähnliches wie Rückendeckung gehabt, die seinen Hals aus der Schlinge gezogen hätte, wäre es jemals wirklich so weit gekommen. Doch das ist nun vorbei und der Ex-Officer ist auf sich allein gestellt und wird wohl damit rechnen müssen, auch den ein oder anderen Schlag einstecken zu müssen, wenn er ans Ziel gelangen will. Und wenn er mal realistisch ist, weiß er bereits, dass Forain sicher schon einen neuen Anschlag auf Milligan plant, um sein Werk vom letzten Versuch zu Ende bringen zu können. Einer von ihnen beiden würde sterben – wer das nun sein würde, hat das Schicksal zu entscheiden.
Weiter wandert der Dunkelhaarige die Straßen entlang, ohne genau zu wissen, wo er sich im Moment befindet. Es ist ihm auch vollkommen egal – immerhin kann Robert über diese Umwege Orte in dieser Stadt kennenlernen, die einem zuvor noch nie aufgefallen sind.
Doch als er eine bestimmte Kreuzung wiedererkennt, bleibt Milligan einfach mitten auf dem Bürgersteig stehen und starrt leer in eine kleine Gasse zwischen den Häusern an der Seite. So viele Erinnerungen stürzen plötzlich auf den Mann ein. Nie hätte er gedacht, dass dieser Ort noch immer eine so starke Wirkung auf ihn hat und ihn so wütend macht. An diesem Ort hat Forain der Polizei sein erstes Präsent hinterlassen. Der Vorfall scheint zwar schon ein ganzes Leben zurückzuliegen, doch dem Buchhalter ist er trotzdem lebhaft in Erinnerung geblieben, womit diese halbe Ewigkeit zu wenigen Sekunden zusammenschrumpft.
Kann man Ewigkeiten überhaupt messen, schweift Robert kurz ab. Schließlich ist die Vorstellung von dem Vergehen von Zeit vollkommen subjektiv und kein Mensch empfindet es wie ein anderer. So vergeht in derselben Zeitspanne für den vielleicht nur eine Minute und für den anderen ein ganzer Tag. Und indem man sich fragt, wie viel Zeit gerade vergeht, verschwendet man wiederum kostbare Lebenszeit, die man für die Lösung aller Kriege oder die Heilung aller Krankheiten nutzen könnte. Damit bedeutet, dass der Fortschritt, den die Menschen sich in Zukunft erhoffen, eigentlich nur verdeckter Stillstand ist, weil die Leute viel lieber darüber nachdenken, was später anders sein könnte, als wirklich etwas zu verändern. Also sollten Menschen nicht so stolz auf ihre Leistungen in der Geschichte sein. Vielleicht stecken wir nicht mehr im Mittelalter fest, aber lebenswert ist ein Leben unter Menschen noch immer nicht.
Bob schüttelt schnell mit dem Kopf. Er schweift schon wieder zu sehr ab. Dabei ist es doch gerade jetzt wichtig, dass er sich konzentriert. Damit schiebt Robert seine pseudophilosophischen Gedanken beiseite und sofort wird er zurück in die Vergangenheit versetzt.
Es sind zwei Opfer gewesen, die die Polizei hier damals vorgefunden hat. Ein Mann und eine Frau sind splitterfasernackt und in sexueller Pose am Erdboden festgefroren, so kalt war es zu dieser Zeit gewesen. Gerufen wurden die Beamten jedoch auch nur, da sich einige ältere Anwohner über diese Zurschaustellung von Obszönitäten beschwert haben, nicht weil dort Leichen auf offener Straße gelegen haben. Vermutlich hat man auch nur die armen Kinder vor dem Anblick von verrenkten Körpern und so viel nackter Haut bewahren wollen, obwohl diese das vermutlich schon von den ganzen Pornos kannten, die sie sich heimlich ansahen. Schande über Forain, dass er die prüden Leutchen so verschreckt hat. Dass den beiden ‚eisigen Liebenden', wie sie später inoffiziell auf dem Polizeipräsidium genannt wurden, die Gesichter in Fetzen gerissen worden sind und ihr Blut eigentlich fast jeden Zentimeter ihrer Körper bedeckte, interessierte da eher weniger. Prioritäten muss man eben setzen.
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Post Mortem
Misterio / SuspensoWie mordet man, sodass alle Welt es mitbekommt, aber doch niemand den Täter kennt? Seit fünf Jahren macht dieser Mann dasselbe. In unregelmäßigen Abständen verschwinden Leute und tauchen einige Zeit später als Leichen wieder auf, die er immer wieder...