Kapitel 9: Zusammenbruch

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Noch immer berauscht von dieser recht außergewöhnlichen Begegnung torkelt Curtis, wie sinnestrunken, Heim. Jedoch kann er es nicht lassen, sich immer wieder hektisch umzuschauen, um sich zu vergewissern, dass die Krähe ihm auch wirklich nicht folgt. Dieser Fremde kennt den Bestatter, ohne dass dieser ihn auch nur einmal in seinem Leben gesehen hat. Ist der Maskierte vielleicht einer dieser geisteskranken Stalker, durch die sich so viele belästigt fühlen? Dennoch fühlt der Dunkelhaarige sich in keinster Weise belästigt, selbst wenn die Krähe in seine hochheilige Privatsphäre eingegriffen haben muss, wenn er sowohl seine Nummer, seinen Namen und seine Geheimnisse kennt. Eher fühlt er sich nahezu geschmeichelt, dass sich ein Fremder um ihn, also sein wahres Ich, nicht die erstickende Maske, die auf seinem Antlitz liegt, schert.

Dieses Verhalten weckt auch Curtis' Neugier. Es ist ungewöhnlich, dass ein Mensch, so wenig menschlich er auch sein mag, sich bemüht, hinter die makellose Fassade zu blicken und die allzu fehlerhafte und unansehnliche Persönlichkeit darunter zu ergründen. Auf irgendeine Weise gefällt dem jungen Mann der sonderbare Denkansatz der Krähe. Narben und seelische Wunden als Schönheitsideal scheinen ein stummer Protest gegen die allgemein hin herrschende Definition von Perfektion zu sein.

Dass der Bestatter selbst nicht darauf gekommen ist, erstaunt ihn fast schon. Schließlich ist er doch jemand, der genau dieses soziale Konstrukt parodiert und still für sich kritisiert. Die Menschen versuchen verzweifelt ihre Menge an Fehlern und Unreinheiten zu kaschieren, aber die Krähe umgeht diese Hüllen spielend leicht und schaut viel tiefer in eine Person hinein, als es dieser lieb ist. Dieser Fremde ist anders. Dieser Mann hat das Potenzial, diese schiefe Welt wieder geradezurücken. Und auch wenn es so aussieht, als wäre Curtis diese Entscheidung bereits abgenommen worden, entschließt er sich nun, der Krähe auf ihrem Weg zu folgen.

Versunken in seinen Gedanken an den Mann mit der Krähenmaske, dessen Weltvorstellungen und die Dinge, die durch ihn möglich werden könnten, öffnet der Bestatter die Haustür. Durch das Knarzen des Holzes wird er aus seiner eigenen kleinen Welt geworfen. Curtis sollte sich wirklich nicht immer so ablenken lassen. Ein Gähnen, gefolgt von der Erkenntnis, dass kein Licht mehr um ihn herum brennt, lässt ihn für einen Moment innehalten. Als der Dunkelhaarige hinausgegangen ist, haben ihn nur wenige Stunden von der Dämmerung des neuen Tages getrennt. Doch wenn er nun empor zum Himmel blickt, scheint es, als wäre die Nacht erst kürzlich über die Welt hereingebrochen. Dieser Serienmörder hat ihn wohl doch länger bei sich behalten, als er vorerst gedacht hatte.

Ohne sein Zutun wird Haus mit Licht geflutet. Ein jämmerliches Schluchzen, gefolgt von einer festen, verzweifelt wirkenden Umarmung heißt Curtis Zuhause willkommen. Seine Frau hat auf ihn gewartet. Die ganze Zeit seiner recht langen Abwesenheit über. Dabei hätte er von ihr erwartet, dass sie sich einfach schlafen legen würde, ohne auch nur einen einzigen sorgenvollen Gedanken an ihn zu verschwenden. Schließlich setzt sich ihre Beziehung nur aus den Ringen an ihrer beider Fingern und gelegentlichem, erzwungenen Geschlechtsverkehr zusammen. Letzterer geht ausschließlich von der Frau aus, da sie sich meist nach Intimität Liebe sehnt. Der junge Mann hat ihre Gefühle für ihn deutlich unterschätzt. Der Bestatter hat in seiner auf seinen Kopf beschränkten noch nicht ganz realisiert, das Gefühlskälte und Liebe auch nur einseitig existieren können.

Warm und weich drückt sich ihr Körper eng an seinen. Jeder andere Mann hätte sich in dieser Umarmung geborgen gefühlt – Curtis jedoch wird nur ungeduldig. Frauen und deren Bedürfnisse sind eben noch nie sein Fachgebiet gewesen. So ist ihm auch jeglicher Kontakt mit dem anderen Geschlecht zuwider. Nicht direkt nur, weil er sich nicht zu ihnen hingezogen fühlt, eher, weil er sie, oder zumindest seine Frau, mit einem Leben, das ihn nur einengt, verbindet.

Und dennoch schmiegt sich seine Frau in diesem Moment an den Bestatter und wischt sich hin und wieder über die wässrigen, blauen Augen, um die aufsteigenden Tränen daran zu hindern, rote Spuren auf ihren blassen Wangen zu hinterlassen. »Wo warst du?«, ist alles, was sie hervorbringen kann. Die Eifersucht klingt deutlich in ihrer Frage mit. Als hätte sie Angst, dass ihr Mann eine Affäre hat. Doch um jemanden zu betrügen, braucht man genug Emotionen, um eine weitere Person außer sich selbst lieben zu können.

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