Kapitel 26: Etwas Neues

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Alles in Crows Leben ist viel zu alltäglich und zur langweiligen Routine geworden. Er braucht Abwechslung. Seine Kreativität muss die Initiative ergreifen, und endlich eine innovative Strategie entwickeln, um die Langeweile abzutöten. Sie hat den Mann doch noch nie im Stich gelassen. Weder als er sich damals vorgestellt hat, wie er seine Mitschüler und Lehrer zu Asche verglimmen lässt noch als die Geister der Vergangenheit ihn in jeder Nacht seit diesem einen Tag heimgesucht haben. All dies ist nur in seinem Kopf geschehen. Warum sollte er Crow nun in diesem lächerlichen Moment, wo ein bisschen Kreativität gebraucht wird, im Stich lassen?

Etwas Neues muss her. Nicht unbedingt neu für die Welt, sondern nur für ihn selbst. Denn in dieser Sekunde ist nur wichtig, was Crow will, der Rest der Welt kann sich zum Teufel scheren. Warum sollte er auch etwas tun, was allen anderen, aber ihm selbst nicht gefällt? Es ist sein Werk. Und noch nie hat er auf die Meinung anderer gehört. Wenn doch, würde er wohl kaum stehen, wo er heute ist – er kein verdammter Jasager, der sich von der Welt begraben und kaputt machen lässt. Zumindest nicht mehr.

Als die Tür in seinem Rücken unter verzweifelten Schläge und erbärmlichen Fluchtersuchen zu beben beginnt, schleicht sich ein seichtes Lächeln auf die Lippen des Blonden. Die Maske ruht bereits wieder wie eine zweite Haut auf dem Haupt der Krähe. Es ist so ein befreiendes und doch so bedrückendes Gefühl, dass sie wieder da ist und ihn vor den verurteilenden Blicken anderer beschützt. Ohne diese Maske ist er vollkommen gewöhnlich wie der Rest der Welt, ohne wahren Wiedererkennungswert und vollkommen austauschbar wie sie alle eben. Würde sich überhaupt jemand für Crow interessieren, wäre diese Maske nicht bei ihm? Nein, die Menschen würden nur sein Äußeres sehen. Wie diese Frau, die nun versucht aus seinem Schlafzimmer auszubrechen. Sie hat sich von seiner alltäglichen und recht ansprechenden Fassade täuschen lassen, und die dahinter lauernde Finsternis nicht eine Sekunde lang wahrgenommen. Nur mit seiner Krähenmaske wird der Mann zu dem Monster, das sie alle kennen. Wie ironisch – andere verbergen sich hinter Maskeraden, um ihre wahre Natur nicht durchschimmern zu lassen, und die Krähe benötigt eine, um er selbst sein zu können.

Warum nur muss diese Gesellschaft zugleich so kompliziert und doch so einfach gestrickt sein? Ihre Vielzahl an Gesetzen und Regelungen hilft ihnen nicht über ihre kümmerliche Moral hinweg, die die Krähe schon seit Kindertagen anwidert. Der Schwächere muss auf die Knie gehen, um dem Stärkeren seine Stärke zeigen zu können. Lächerlich. Ohne diese triebgesteuerten, primitiven Monster überall wäre diese ohnehin schon dem Abgrund zugeneigte Welt ein besserer Ort. Sie sind das wahre Problem der Menschheit, nicht der Klimawandel, nicht die Armut, nicht die Ressourcenknappheit oder all die Kriege. Die Monster sind der Ursprung aller Probleme. Warum nur hat das noch niemand außer ihm erkannt?

Als Crows neuste Errungenschaft schließlich noch beginnt sich die Seele aus dem Leib zu schreien, tritt er einige Schritte von der sich weiterhin unter Schlägen beugenden Tür zurück. Sie wird aus ihrem kleinen Gefängnis niemals entkommen können. Was wäre er nur für ein Narr, hätte er sein Heim nicht bereits vor langer Zeit für derartige Besuche präpariert.

Es ist so leicht gewesen die Frau einzusperren. Dummes Mädchen. In ihrem Verlangen nach körperlichem Kontakt und bedeutungsloser Kopulation hat sie ihrer Naivität die Kontrolle über ihre Handlungen überlassen. Die ständigen Partnerwechsel, die Crow schon länger bei ihr beobachtet hat, machen die Dunkelhaarige zu einem der Monster, deren Auslöschung er sich zur Aufgabe gemacht hat. Nun hockt sie in diesem kleinen Raum mitsamt der wenigen Möbelstücke, die der Mann sich hin und wieder anschafft, um zumindest für sich selbst den Anschein eines häuslichen, normalen Lebens zu kreieren. Wenn er genau zuhört, kann er sein Opfer weinen hören. Immerhin schreit es nicht mehr. Wie erbärmlich diese Frau doch ist. Aber sie ist selbst schuld. Schon als kleines Kind lernt man, dass man nicht mit Fremden mitgehen sollte.

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