Erneut steht Robert vor Claras Tür, da sich ihr erstes Treffen so halbfertig anfühlt. Vor allem der Abschied ist viel zu schnell gekommen, nur weil dieser Pfleger, die beiden hat unterbrechen müssen. Dabei hätte die Frau dem ehemaligen Polizisten sicher noch mehr erzählt, wenn man ihr etwas Zeit gegeben hätte. Doch so wie es jetzt ist, ist ihre Konversation nur zur Hälfte geführt worden und muss dementsprechend fortgesetzt werden. Robert hasst es, wenn Dinge ungesagt und leer im Raum schwebend zwischen zwei Personen verharren. Jedes Mal, wenn er von einer Person zurückgelassen wird, kommt es ihm vor, als hätte er zu wenig gesagt und als würde immer diese eine wichtige Sache, die alles ändern könnte, vergessen auszusprechen.
Versucht Robert etwas wiedergutzumachen? Alle anderen haben ihn verlassen und so viele Worte ungesagt gelassen, die ihm seit Jahren auf der Seele brennen. Doch wie wichtig können Worte schon sein? Er hätte nichts sagen können, um zu verhindern, dass seine Frau ihn zuerst betrügt und dann schlussendlich verlässt. Auch wäre ein einfacher Mann wie er niemals imstande gewesen, den Tod eines geliebten Menschen abzuwenden. Aber wenn es doch möglich wäre, die Geschichte neu zu schreiben, hätte Robert nicht vergessen diese eine wichtige Sache zu sagen? Diese eine Sache, die vielleicht hätte verhindert können, dass er nun an diesem Ort steht und sich mit seinen Gedanken und Taten immer weiter im Kreis dreht, ohne wirklich einen brauchbaren Fortschritt zu machen.
Dieser Zwang nach Vollendung hat ihn wieder hierher gebracht. Er darf diese Frau nicht einfach allein lassen, gerade weil sie so paradox ist, glaubt er. Denn Robert glaubt Clara, egal wie widersprüchlich sie als Person ist. Sie hat immerhin gemeint, dass sie die Krähe um ihr Haus schleichen sieht – wie ein räudiger Streuner, der sich sein nächstes Opfer ausschaut so lange beobachtet, bis er die perfekte Gelegenheit sieht, es zur Strecke zu bringen. Milligan darf ihre Bedenken nicht einfach ignorieren. Schließlich ist er nicht mehr Teil der Polizei und muss sich somit nicht an irgendwelche Gesetze und Richtlinien halten, die Menschen zu Gegenständen degradieren.
Erst als Milligan schon die Hand erhebt, um an der Tür zu klopfen, fällt ihm auf, das von dieser nicht mehr viel übrig geblieben ist. Etwas fassungslos starrt er die zertrümmerte Haustüre an und somit auch direkt Hausflur voller Holzsplitter. Erst jetzt fällt Robert auf, dass alles in diesem Haus dunkelrot gehalten ist. Es ist sicher einfach nur Zufall, dass diese Wände die Farbe des Blutes an sich tragen und hat nichts mit der düsteren Aura zu tun, die dieses Haus umgibt.
Jemand hat sich unerlaubt Zugang zum Inneren des Gemäuers verschafft, das ist Milligan klar. Ob es ein gewöhnlicher Einbruch gewesen ist? Nein, keinesfalls. Auch wenn die Krähe sicher versuchen wird, es wie einen aussehen zu lassen, würde kein guter Einbrecher eine so offensichtliche Spur wie die eingetretene Tür hinterlassen. Dieser Jemand muss Wellington gekannt und gehasst haben, sonst hätte er doch niemals so gewaltsam versucht, einzubrechen. Das widerspricht einem einfachen Dieb, der eher weniger an dem Haus und dem Bewohner als an den Wertgegenständen dessen interessiert ist.
Möglichst vorsichtig steigt Robert über die Überreste der Tür hinweg, dabei ständig in der Erwartung, dass er sich doch einen Splitter eingetreten und gleißender Schmerz in seinen Fußsohlen aufflammen würde. Doch es geschieht nicht das Geringste, wenn man vom dumpfen Pochen in seinem Bein absieht, da die alte Verletzung durch das Laufen auf Zehenspitzen wieder Probleme macht. In diesem Moment kommt Milligan sich wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld vor, der am liebsten wie eine Kanonenkugel nach vorn stürmen würde, um den Feind unschädlich zu machen, aber sich doch zurückhält, da er gleichzeitig mit der Furcht kämpft, im nächsten Moment auf eine Mine zu treten und in Fetzen gerissen zu werden.
Nein, dieser Vergleich passt einfach nicht. Soldaten sind ehrenvoll. Sie kämpfen für ihr Land und können ihre Wunden fast schon mit Stolz und Würde tragen, da sie im Gefecht verletzt worden sind, als sie ihr Leben für die, die ihnen am nächsten stehen, aufs Spiel gesetzt haben. Robert hingegen wird durch diese kleine Narbe am Bein nur an seine eigene Feigheit erinnert. Er hat sich für niemanden eingesetzt – nur weggelaufen ist er. Vor der Tatsache, dass Matt einfach vor seinen Augen gestorben ist, während er hilflos daneben stand. Vor seinen Problemen, an deren Lösung Robert immer wieder scheitert und die ihn begraben. Er ist ein Feigling, der alles Wichtige im Leben verloren hat. Mehr nicht. Es hat nie einen Kampf gegeben, in dem er hätte heldenhaft untergehen können. Von Anfang an hat Milligan sich selbst belogen.
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Post Mortem
Mystery / ThrillerWie mordet man, sodass alle Welt es mitbekommt, aber doch niemand den Täter kennt? Seit fünf Jahren macht dieser Mann dasselbe. In unregelmäßigen Abständen verschwinden Leute und tauchen einige Zeit später als Leichen wieder auf, die er immer wieder...