Lurion wuchs mit seinen Eltern im Bandrunwald auf. Er erinnerte sich nicht mehr gut an diese Tage. Doch ein Gefühl von Einsamkeit überkam ihn, wenn er an diese Zeit zurückdachte. Er wusste noch, dass es nicht viele Menschen im Wald gab und die wenigen lebten weit verstreut. „Früher einmal“, konnte er noch seine Mutter sagen hören, „früher war das alles anders“. Doch nun drohte Verfall und Armut. Er erinnerte sich, dass sie in einem großen Haus lebten, auch noch an die Tafel, an der sie täglich aßen, auch an seinen Vater erinnerte er sich noch gut. Obwohl dieser oft auf Reisen war. Auf friedlicher Mission, wie seine Mutter es nannte. Wenn er mit ihr alleine war, vergingen die Tage langsam, doch langweilig war ihm nie. Der Wald war ein guter Ort, damals, in Lurions Kindheit. Gut, um dort aufzuwachsen, gut zum spielen, klettern, zum baden in den Bächen und Teichen. Nun war der Wald verlassen, die Häuser längst verfallen und die große Straße verwachsen und fast vergessen.
Eines Tages, Lurion war vor kurzem zehn Jahre alt geworden, kam sein Vater von einer dieser Reisen zurück und verkündete, dass sie nun weggehen würden. Er wusste noch wie seine Mutter weinte und sich mit seinem Vater stritt. "Der Wald ist menschenleer, das weißt du doch, Marea.", hörte er ihn sagen. "Es wird eine Stadt errichtet und die Herren Degofs wollen mich als Bürgermeister. "Die Herren Degofs?", schrie seine Mutter. "Du bist der Herr von Bandrun. Diese Emporkömmlinge haben kein Recht, dich herabzuwürdigen."
Doch einige Wochen später verließen sie ihr Heim im Wald und zogen an den Avelor. Dort gab es ein wildes Treiben, Menschen wohin man nur blickte, viel wurde gebaut und Lurion rannte tagsüber durch die Straßen und unterhielt sich mit den verschiedensten Menschen. Nach ein paar Jahren geschah ein Unglück. Sein Vater starb bei einem Unfall, als ein gehauener Felsen von einem der Häuser fiel, die gerade errichtet wurden, und ihn erschlug. Seine Mutter sprach daraufhin kein einziges Wort mehr. Sie alterte zusehends und bereits ein Jahr nach dem Tod des Vaters, starb auch sie.
Lurion war damals fünfzehn Jahre alt, als ihn eine Familie aufnahm, die er nicht kannte. Die Stadt wuchs und viele Leute waren auf den Straßen unterwegs. Aber der junge Lurion mochte nicht mehr mit ihnen sprechen. Er verrichtete meistens die Hausarbeit und ging nur selten hinaus. Vier Jahre vergingen so. Am Ende des vierten, war die Stadt fertig und der König sollte zu Besuch kommen. Lurion verließ das Haus, sah die Menschenmassen, wie sie auf ihren Regenten wartend, in den Straßen standen, die Fürsten Degofs, welche auf einem großen Platz auf ihren Rössern saßen, in glänzenden Rüstungen. Die Stadt war herausgeputzt, bunte Flaggen wehten von allen Dächern und Türmen, alle hatten ihre schönsten Kleider an und da kam auch schon die Kutsche des Königs. Lurion drehte sich um und ging los. Er verließ die Stadt nach Osten hin.
Er wanderte monatelang durch die Länder des Ostens, seinen zwanzigsten Geburtstag verbrachte er in Liflan, an der nordöstlichen Spitze Drauols. Sogar den Leuchtturm bestieg er und hoffte darauf, einen Blick auf den Thalpon werfen zu können, doch Wolken hingen über dem Meer und nichts war zu sehen.
Danach wanderte er lange durch Draembad, welches zu der Zeit unbesiedelt war. Es war ein ödes, trockenes Land, doch etwas daran verzauberte ihn. Vielleicht war es die Einsamkeit, vielleicht die verschiedenen Braun- und Gelbtöne die in der Sonne leuchteten. Eines Tages kam er an das Meer im Osten. Es war stürmisch und feuchte, salzige Luft blies ihm entgegen. Die Wellen donnerten gegen die Felsküste und die Gischt spritzte hoch in die Luft. Vor ihm lagen die verriegelten Berge. Er hatte sie schon oft aus der Ferne gesehen, doch so nah wie jetzt, war er ihnen noch nie gekommen. Er stand vor den gewaltigen Mauern, welche sich zwischen den hoch aufragenden Gipfeln spannten. Scheinbar erdrückt von ihrer eigenen Last, sanken sie in der Mitte ein. Und Lurion spazierte durch die spitzen Felsen nah an der Mauer, frei von jedem Gedanken und Stunden später fand er sich wieder inmitten des Gebirges. Es war als würde er von einem Traum erwachen und als er sich umsah, sahen viele Augen zurück.
Viele Jahre verbrachte er in diesem Land, als einziger Mensch, der es jemals betreten hatte, denn weder zuvor, noch danach durfte ein Mensch die Mauern passieren. Und er erfuhr den Namen dieser Berge und erblickte manches Unglaubliche. Denn hier lebten seit jeher die Rodravar, Wesen welche die Deluvar vor langer Zeit erschufen. Sie waren nicht zahlreich und die Menschen wussten nichts mehr von ihnen. Doch in alten Zeiten wurden sie von den Göttern zu Hilfe gerufen, um für sie in einem Krieg zu kämpfen. Und die Rodravar zogen aus den Bergen Oandos aus, um zu kämpfen, denn die Bitte ihrer Schöpfer, konnten sie nicht ablehnen. Die Rodravar waren mächtige Kreaturen und sie erbrachten einen großen Sieg. Doch daraufhin wollten sie nichts mehr mit der Welt zu tun haben denn viel Grausames sahen sie im Krieg und viele von ihnen starben im Kampf. Also zogen sie sich unter die Berge im Osten Oandos zurück. Die Deluvar akzeptierten ihren Wunsch und zogen hohe Mauern um das Land, damit ihre Kinder für immer in Frieden leben konnten. Doch viele Jahre später kamen die Menschen nach Oando und die Rodravar riefen die Götter zu sich. Eine Abmachung wurde getroffen. Es durfte keinen Krieg geben, sonst würden sie die Menschen bekämpfen und aus Oando vertreiben.
Lurion lernte viel von den Bewohnern der verriegelten Berge und eines Tages, als er über das Gelernte nachdachte, während er nah am Meer, zwischen den Gipfeln wanderte, riefen ihn die Götter in die verborgene Stadt. Ein weißes Schiff brachte ihn über geheime Pfade nach Vendreor. Nicht lange weilte er in der Stadt. Danach sollte jedoch nichts mehr so sein wie zuvor. Die Jahre wurden kurz und er sah viele Könige kommen und gehen. Es sah zu wie so manche Stadt, ihre Blütezeit erlebte und wieder verfiel. Er wanderte weiterhin durch die Länder Drauols und überall dort wo Streit herrschte, versuchte er zu beruhigen, egal ob es sich um einen Ehestreit oder um einen bedrohlichen Streit zwischen zwei Fürsten handelte. Denn er wusste nun, wie wichtig der Frieden für seine Heimat war. Dass die Menschen nicht die Besitzer Oandos waren, sondern Gäste. Doch mit dem Aufkommen der Hochmenschen war auch er überfordert. Er konnte nur zusehen, wie der Westen immer eitler wurde. Und als die Oandrim die Grenze abriegelten, beriet er den König und vertraute ihm manch ein Geheimnis an. Fortan ließ man Nostrelar und Verelar gewähren und beschränkte sich darauf, den Osten zu regieren.
Mit den vielen Jahren wurde Lurion müde, eine Zeit lang lebte er im Süden, in Walorim, dann in Bervon und in Ruad. Eine Zeit lang bewohnte er sogar die Burg Orofin. So manches Jahr wanderte er durch die unbewohnten Länder im Norden. Doch schließlich zog es ihn nach Rundor. Denn die Stadt lag nah an den Bergen der Rodravar und wenn er wollte, dann ging er nach Ruad hinein, bis an die Grenze des Gebirges. Dort erinnerte er sich an die Tage hinter der Mauer und an all die Wunder die er dort erfuhr. Doch nie wieder kam er in das Land hinein, das ihn so erstaunte. Allerdings hielten seine Bewohner den Kontakt zu ihm trotzdem aufrecht. In seinen Träumen sprachen sie zu ihm und halfen mit Rat aus, wenn er nicht weiterwusste.
Als einmal der König nach Rundor zu Besuch kam, ging Lurion auf den großen Platz unter die Kuppel. Er stand etwas abseits der Masse und lauschte der Rede. Der König hielt eine flammende Rede gegen die Oandrim. Offenbar waren Lurions warnende Worte vergessen. Er sah sich um, sah die geschmückte Stadt, die vielen Menschen und fühlte sich in seine Jugend zurückversetzt. Und er tat, was er schon damals tat, er verließ die Stadt, denn wieder beschlich ihn das Gefühl, das ihn nichts mehr mit seiner Umgebung und den Menschen, denen er helfen wollte, verband, und zog in Richtung Rauduvion davon.
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ANDROR: Die Drauol-Bücher
FantasyDie Spuren des Krieges sind überall sichtbar. Zerstörte Höfe und Dörfer wohin man auch blickt. Die Städte liegen in Trümmern.Und diese hartnäckigen Leute folgen mir noch immer. Dalosias war nicht sicher. Nun wandere ich weiter nach Westen, durch die...