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"A dreamer is one who can only find his way by moonlight and his punishment is that he sees the dawn before the rest of the world."
~ Oscar Wilde

„Das rote oder das blaue Kleid?"
fragt mich eine mir unbekannte Stimme. Ohne zu zögern antworte ich:
„Natürlich das Blaue. Du weißt doch wie sehr die Farbe Blau deinen Augen schmeichelt."
„Sowas kann nur aus dem Mund einer wahren besten Freundin kommen!"
sagt sie und zieht den Vorhang der Umkleide zur Seite.
„Perfekt! Er wird es lieben."
Obwohl ich mir nicht sicher bin über wen das hübsche Mädchen mit den blonden Haaren spricht, sage ich entschlossen:
„Er wird dich lieben!"
Ihr mit rotem Lippenstift umrahmter Mund lächelt:
„Du hast leicht reden."
Im selben Moment spüre ich eine warme Hand auf meiner Schulter. Als ich mich langsam umdrehe, nimmt mich ein Junge zärtlich in seine Arme und küsst mich.

Erschrocken öffne ich meine Augen, das grelle Licht des Vollmondes scheint durch mein Schlafzimmerfenster und blendet mich. Nur ein Traum. Natürlich nur ein Traum. Denn die Realität sieht anders aus. Schließlich habe ich weder eine beste Freundin, noch gibt es einen Jungen in meinem Leben. Doch, das macht einen wahren Traum doch aus, oder? Er entführt dich für eine Nacht in eine andere Welt. Eine Welt, in der nicht nur deine tiefsten Emotionen und Gefühle widergespiegelt werden, sondern auch eine Welt, in der alles nur für dich passiert. Für dich allein. Kein anderer Mensch kann in dein Gehirn eintauchen und sehen, was du träumst. Es ist deine eigene kleine Welt, deine Traumwelt. Mit diesem Gedanken drehe ich mich zur Seite und hoffe, dass ich so schnell wie möglich wieder einschlafe und meiner besten Freundin zur Seite stehen kann.

„Rosemary! Es ist bereits Mittag und du liegst immer noch in deinem Bett. Du kommst sofort hinunter und isst gemeinsam mit deiner Mutter, so wie es jede normale Tochter auch tun würde."
Das ist das Schönste an den Sommerferien. Ausschlafen, dem Schulalltag entfliegen und keiner Menschenseele aus meiner Klasse über den Weg laufen. Wenn da bloß nicht die Schreie meiner Mutter wären, die mich aus meiner geliebten Traumwelt reißen. Ich überrede mich schlussendlich aufzustehen und tapse schwankend die steile Treppe hinunter. In der Küche angekommen, sitzt meine Mutter bereits an der gedeckten Tafel. Der Geruch von verbrannten Kartoffeln liegt in der Luft.
„Nimm dir doch etwas Fleisch, Liebes! Das Eisen wird dir Gut tun und hoffentlich etwas Farbe in dein bleiches Gesicht zaubern."
Angewidert starre ich den Braten auf unserem Küchentisch an und versuche zu identifizieren, um welche Art von Geflügel es sich dabei handelt.
„Du weißt genau, dass ich keine toten Tiere esse."
Die fein zurecht gemachte Frau wirft mir einen leicht entsetzten Blick zu und sagt ruhig:
„Ihr Kinder und eure exzentrischen Phasen."
Ich stochere mit der Gabel ungeduldig in meinem zu braunen Kartoffelhaufen herum, als meine Mutter sagt: „Du bist dir hoffentlich dessen bewusst, dass das so nicht weitergehen kann. Mit fast 18 Jahren kann man es sich nicht erlauben, bis zwölf Uhr zu schlafen und sich dabei weder an seiner Umwelt, noch im Haushalt zu beteiligen. Deshalb haben dein Vater und ich auch beschlossen, dich für den Rest des Sommers wegzuschicken."
Wegschicken? Obwohl ich innerlich außer mir bin, wage ich es nicht meinen Mund zu öffnen.
„Du kannst dich doch bestimmt noch an Tante Annie erinnern, oder?"
Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Wann habe ich Tante Annie zuletzt gesehen? Das ist bestimmt schon sieben Jahre her.
„Rosemary, ich spreche mit dir! Der Flug ist bereits gebucht. Übermorgen geht es los, bereite dich schon mal auf deine Abreise nach England vor."
Nun kann ich nicht mehr ruhig dasitzen und dieser perfektionistischen Frau zuhören, wie sie mich darüber informiert, dass sie bereits meinen ganzen Sommer verplant hat. Worte verlassen ohne Überlegung mein Mundwerk und obwohl ich es nicht beabsichtigt hatte, schreie ich:
„WAS? Übermorgen soll ich in den nächsten Flieger steigen und den ganzen Sommer lang bei einer alten Frau leben, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe? Das kann doch nicht euer Ernst sein!"
Meine Mutter ist sichtlich von meiner Antwort überrascht, streicht sich ihre blond gefärbten Locken aus dem Gesicht und sagt:
„Ich habe alles mit meiner Schwester abgesprochen. Sie freut sich bereits auf deine Ankunft. Leider ist es deinem Vater nicht möglich früher aus Belgien zurückzukommen, um dir Lebewohl zu sagen."
Die Tatsache, dass mein eigener Vater seine Geschäftsreise nicht ein paar Tage früher abbrechen kann, um sich bei seiner einzigen Tochter zu verabschieden, enttäuscht mich zwar einerseits, jedoch überrascht es mich andererseits nicht. Schließlich ist er ein waschechter Geschäftsmann. Edward Weiss, ein Anwalt erster Klasse. Seine Ehefrau Elizabeth hat sich mittlerweile damit abgefunden, dass er immer unterwegs ist, denn sie zieht auch ihre Vorteile aus der harten Arbeit meines Vaters. Er verdient so gut, dass sie ihr ganzen Leben lang noch keinen Finger rühren musste und verbringt seither Tag für Tag in unserem großen Haus. Doch noch lieber als im Inneren unserer Villa, befindet sie sich in unserem majestätischen Garten, um ihrer Leidenschaft nachzugehen. Der Gartenarbeit. Beim Hecken stutzen, Blumen züchten und Unkraut jäten fühlt sie sich nicht nur glücklich, sondern kann auch ihren Drang zum Perfektionismus ausleben. Ich vermute, dass sie mich aufgrund ihrer Liebe zum Heilkraut Rosmarin und ihrer britischen Wurzeln auch Rosemary nannte.
Im Gegensatz zu meiner Mutter, konnte ich aus dem beruflichen Erfolg meines Vaters leider keine Vorteile ziehen. Im Gegenteil, denn seit dem Kindergarten werde ich als verzogenes Einzelkind abgestempelt. Das war auch einer von vielen Gründen, warum es mir schon immer schwer fällt andere Menschen anzusprechen und Freundschaften zu schließen.
Ich beende mein Essen schnell und verschwinde ohne ein weiteres Wort mit meiner Mutter zu wechseln in meinem Zimmer.
Den restlichen Tag verbringe ich in meinem Bett und frage mich, wieso ich ein solch sinnloses Leben führe. Gegen zehn Uhr spüre ich, wie meine Augenlider schwer werden und kurze Zeit danach bin ich auch schon eingeschlafen.

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