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"It does not do to dwell on dreams and forget to live"

~J.K. Rowling

„Annie? Welcher Weg ist der Richtige?"
Ich starre in Richtung einer Abzweigung. Entweder links oder rechts. Die Entscheidung fällt mir schwer.
„Du musst auf dein Herz hören, Darling. Es wird dir die Antwort sagen."

Als ich das Tageslicht erblicke, ist es bereits früh am Morgen. Jetzt oder nie! Ich nehme die Karte des Hauses zur Hand und drücke die Türschnalle hinunter, als ich eine Stimme am Gang wahrnehme.
„Rosemary, sind Sie schon wach?"
Es ist Leonard. Hastig verberge ich die Karte wieder.
„Ja, Leonard."
Nach kurzem Schweigen ertönt die Stimme wieder:

„Sehr gut, denn Ihre Tante möchte heute mit Ihnen in die Einkaufsstaße der nächstgelegenen Ortschaft fahren."

Verflixt! Da muss ich meine Suche wohl verschieben. Ich werfe mir ein Kleidchen über und stolpere zu meiner Tante in die Küche.

„Am besten wäre es, wenn wir uns sofort auf den Weg machen. Pack dir ein Honigbrötchen für die Fahrt ein."

Wir nehmen den Zug um 8:30 und kommen nach kurzer Fahrt in dem Örtchen an. Den Vormittag verbringen wir damit, durch die Straßen zu spazieren. Es ist ein wunderschöner Tag. Die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel auf uns herab und ich genieße die Wärme. Leute sitzen auf kleinen Tischen und genießen ihren Kaffee, auf dem Marktplatz plätschert ein Springbrunnen vor sich hin und aufgeregte Menschenmassen laufen mit Einkaufstaschen bepackt durch die Straßen.

„Komm Darling, ich will dir etwas zeigen!"

Sie nimmt meinen Arm und führt mich in eine Seitengasse. Als wir vor einem kleinen Geschäft stehen, sagt sie:

„Diese Boutique gehört meiner besten Freundin, Susanne."

Das kleine lila Gebäude ist von Wildblumen umgeben und ein Holzschild mit der Aufschrift:„Well-dressed" ziert die Fassade. Das klingende Geräusch einer Glocke ertönt,als wir die Tür öffnen. Eine Frau mit langem Blumenkleid und rabenschwarzen Haar läuft uns mit ausgestreckten Armen entgegen.

„Hi, Annie. Good to see you. Und du musst wohl Rosemary sein. Ach, du siehst ja aus wie Dorothy."

Das ist nun schon das zweite Mal, dass ich mit meiner Großmutter verglichen werde. Gezwungen versuche ich zu lächeln.

„Du hast so schönes Haar, mein Kind. Gestern ist die neue Lieferung angekommen.Ich glaube, dass da etwas für dich dabei war."

Susanne verschwindet hinter einer Tür und ich bemerke, wie es sich eine graue Katze auf einem Stoß T-Shirts bequem macht. Als sie wieder zurückkommt, hält sie ein braunes Paket in der Hand und gibt es mir. Dankend nehme ich es an und wir machen uns auf den Heimweg.

Zurück in der Villa, bin ich schon gespannt, was sich unter der Verpackung aus Karton verbirgt. Ich rase die Treppe hinauf und werfe mich auf mein Bett, das Paket fest in meinen Händen. Als ich es öffne, kann ich weinroten Stoff erkennen. Es ist ein Kleid. Ich probiere es sofort an und bin darüber verwundert, wie hübsch ich aussehe. Es ist knielang und fällt, wie ein Schleier, meinen Körper herab.

Beim Abendessen zeige ich es stolz Annie und Leonard. Am liebsten würde ich es gar nicht mehr ausziehen. „Wie eine Prinzessin!"

sagt Annie begeistert. Den restlichen Abend lang spielen wir Kartenspiele und trinken eine Tasse Pfefferminztee nach der anderen.

„Bevor ich noch eine Niederlage ertragen muss, mache ich mich besser bettfertig. Gute Nacht, Darling."

Auch ich begebe mich in mein Zimmer und als ich mich schlafen legen will, kommt mir das Buch wieder in den Sinn. Ich warte bis ich die große Uhr im Wohnzimmer 12 Uhr schlagen höre, um mich dann auf den Weg zu machen. Manche würden es abergläubischen Irrsinn nennen, doch für mich ist es eine reine Vorsichtsmaßnahme. Wer ist denn schon gerne zur Geisterstunde, um Mitternachtin einem wildfremden Keller eingeschlossen? Ich ganz bestimmt nicht. Was benötigt man für eine geheime Expedition? Rucksack, Taschenlampe, eine Flasche Wasser und Gummibärchen für alle Fälle. Das Buch! Beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen. Ich behalte das Kleid an und werfe mir bloß eine graue Kapuzenjacke über.

„Ein bisschen viel Aufwand, nur für den Weg in den Keller.", sage ich zu mir selbst.

„Naja, wenn man schon ein nächtliches Abenteuer erlebt, dann aber richtig!"

Ich schlüpfe hastig in meine Sneakers und schleiche durch das große Haus. Das Licht des Mondes, welcher durch die vielen Fenster strahlt, erleuchtet den Gang. Schließlich stehe ich vor der Kellertür. Angst kommt in mir auf. Vielleicht sollte ich besser auf Annie hören und wieder in mein Zimmer gehen. Dort läge ich jetzt in meinem kuscheligen Bett und könnte friedlich schlafen...Nein! Ich schaffe das. Ich atme tief ein und öffne nach kurzem Zögern die knarrende Holztür. Doch ich kann nichts erkennen, alles ist schwarz. Da muss wohl meine Taschenlampe aushelfen. Ich wusste, dass es kein Fehler war, sie mitzunehmen. Durch das dumpfe Licht, kann ich steile Stufen erkennen. Vorsichtig bewege ich mich den Abgang hinunter und spüre einen kalten Lufthauch, der mir einen Schauer über den Rücken jagt.

„Nur ein Keller. Das ist nur der Keller meiner Tante. Kein Grund zur Beunruhigung."

Doch dies ist leichter gesagt, als getan. Am Ende der Treppe, stehe ich ineinem Raum, welcher als Rumpelkammer dient. Kisten, Kommoden und Antiquitäten füllen den Raum. An beiden Enden des Zimmers, kann ich eine Tür erkennen. Links oder rechts? Diese Frage erinnert mich an meinen Traum. Doch ich befolge nicht Annies Rat und höre auf mein Herz, sondern nehme die Karte zur Hand, um mich zu orientieren. Nach kurzer Überlegung, öffne ich die linke Tür. Es ist eine kleine Kammer, in der sich eine Waschmaschine befindet. Mehrere Wäscheleinen sind diagonal durch den Raum gespannt, jedoch hängt kein einziges Kleidungsstück auf ihnen. Hinter der nächsten Holztür sollte sich die Stelle befinden, welche auf der Karte mit dem X gekennzeichnet ist. Ich betätige die Türklinke und bin wieder in einer Abstellkammer gelandet. Nur, dass diese um einiges unordentlicher ist, als die Erste. Es ist keine Spur von Kästen oder Regalen zu erkennen. Alles liegt frei im Raum herum. Alte Papiere stapeln sich,Bücher auf dem Fußboden und mehrere Lampen hängen von der Decke herab. Doch der markanteste Blickfang ist die rote Polsterbank. Als ich das Zimmer mit der Karte vergleiche, entdecke ich, dass sich das X an genau demselben Ort befindet, an dem das Sofa steht. Neugierig durchsuche ich die Bank nach Hinweisen. Doch, es ist nichts zu sehen. Es handelt sich um eine gewöhnliche, rote Couch. Nichts erscheint mir auffällig oder verdächtig. Schließlich wage ich einen Blick unter das Möbelstück. Sehe ich richtig? Mir scheint es so, alswürde ich etwas Silbernes hervorblitzen sehen. Mit aller Kraft schiebe die Polsterbank zur Seite und entdecke eine Schnalle, welche auf dem Holzboden befestigt ist. Eine Falltür! Nun ist es offiziell. Irgendein Geheimnis steckt hinter diesem Buch und ich befinde mich auf dem besten Weg, es zu lösen. Ich ziehe an der Schnalle, als die Tür hochklappt und ein kleines Fach zum Vorschein kommt. Eine goldene Kette, welche einen roten Edelstein als Anhänger trägt, liegt darin. Ich nehme sie vorsichtig heraus und lese auf einem Zettel,welcher an ihr hängt, die Zahl: 132. 132? Was kann das bloß bedeuten. Vielleichein geheimer Code. ACB? Annie's captured beasts? Nein. Das ergibt keinen Sinn. Vielleicht stehen die Zahlen in Verbindung mit der Karte oder dem Buch. Das ist es! Eine Seitenanzahl. Ich setze mich auf das Sofa und öffne „Traumwelten" auf der entsprechenden Seite. Ich erkenne eine exakte Abbildung der Kette und die Aufschrift: Der luzide g. Darunter befindet sich ein kurzer Absatz dazu, jedoch sind nur noch wenige Worte lesbar. Der Rest wurde mit einem Schwarzstift weggestrichen.

„Wenn man dieses Amulett trägt verhilft es einem... Der Träger kann hat nun vollen Zugriff... Angst... Möglichkeit... Schicksal... Traum." Mehr kann ich leider nicht entziffern. Entschlossen lege ich mir die Kette um den Hals. Ich bemerke, wie meine Hand zittert und dass es mir schwerfällt, den Verschluss zu schließen. Nichts passiert. Ich bin ein wenig enttäuscht, da ich mit mehr gerechnet hätte. Ich erhebe mich vom Sofa und betrachte mich in einem Spiegel an der Wand. Plötzlich sehe ich, wie der Stein zu strahlen beginnt. Das Rot wird immer intensiver und heller. Die Situation macht mir Angst und ich will die Kette öffnen, doch es geht nicht. Der Verschluss klemmt. Verzweifelt versuche ich zu schreien, aber kein Ton kommt aus mir heraus. Auf einmal, wird mir schwarz vor Augen. Es fühlt sich fast so an, als wäre ich auf einem schaukelnden Schiff oder als hätte ich bereits ein Glas Rotwein zu viel getrunken. Ich schwitze und habe eine Gänsehaut zugleich. Schlagartig verliere ich den Boden unter den Füßen und falle auf die Polsterbank, welche mich weich auffängt. Ich spüre, wie sich meine Augen schließen und ich nicht mehr im Stande bin, mich zu bewegen...

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