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"Maybe one day we'll find the place where our dreams and reality collide."

~ Lewis Carrol

Eine wunderbare Welt. Das Zirpen der kleinen Wesen wird lauter. Ich bemerke, dass es gar keine Insekten sind, sondern kleine Geschöpfe mit Flügeln. Sie erinnern mich ein wenig an Feen, mit ihren hübschen Gesichtern und spitzen Ohren. Der Duft von Orangenblüten liegt in der Luft und es scheint, als wäre alles von einem glitzernden Schleier umgeben.

Ich öffne meine Augen und die Morgensonne strahlt mir sanft ins Gesicht. Wieder einmal derselbe Traum und ich bin nicht weitergegangen, um mehr zuentdecken. Könnte ich meinen Traum selbst steuern, hätte ich wahrscheinlich noch länger in diesem Zauberwald verweilt. Ich vernehme ein Klopfen an der Zimmertür. Es ist Leonard.
„Miss Adams, der Frühstückstisch wurde gedeckt und Ihre Tante wartet bereitsauf Sie."
Ich strecke mich und antworte halbverschlafen: „Dankeschön Leonard, aber bitte nennen Sie mich doch Rosemary."
Unten angekommen, sitzt Annie am Esszimmertisch und liest Zeitung. Der Tisch erscheint mir viel zu groß für nur zwei Personen.
„Ach, setz dich doch, Darling! Gut geschlafen?"
Leonard füllt meine Tasse voll mit Kaffee.
„Wie ein Baby! Ich glaube, dass ich mich in dieses Bett verliebt habe. Man liegt darin, wie auf Wolken. Wann fahren wir in die Stadt?"
Lächelnd antwortet sie:
„Zieh dich nach dem Essen an, damit wir in einer Stunde losfahren können."
Nachdem wir uns über Alltägliches, wie das Wetter unterhaltet und ich mein Croissant mit Marmelade aufgegessen habe, mache ich mich wieder auf den Weg zurückin mein Zimmer. Als ich die Treppe hinaufschlendere, fällt mir ein Bild sofortins Auge. Ein vornehm gekleidetes Ehepaar, welches hinter ihren beiden Töchtern steht und in die Kamera lächelt. Meine Großeltern, meine Mutter und Annie. Die Zwillinge haben sich schon damals nicht wirklich ähnlich gesehen. Obwohl beide dasselbe weiße Kleidchen anhatten und eine zartrosa Schleife ihre Haarezierten, unterschieden sie sich wie Tag und Nacht. Meine Mutter, welche damals noch naturblondes Haar hatte, hielt ihren Kopf hoch und lächelte arrogant. Annie hingegen, hatte feuerrotes Haar und schnitt mit ihrem Mund eine Grimasse,welche ihre Zahnlücke voll und ganz zum Vorschein brachte. Ich frage mich, ob es meinen Großeltern nicht lieber gewesen wäre, wenn meine Mutter die Villa in England geerbt hätte, anstatt mit jungem Alter in ein fremdes Landauszuwandern. Da sie nicht nur ihrem Ideal entsprach, sondern auch vom Auftreten eher in die obere Schicht und in ein solch anmutiges Hause passt. Ich sehe es deutlich vor mir, wie meine Mutter eine Dinnerparty nach der anderenfeiert, nur um allen ihren Freundinnen das große Grundstück und die antike Einrichtung unter die Nase reiben zu können. Vielleicht ist sie ja eifersüchtig auf meine Tante und sie haben deshalb nicht das beste Verhältnis zueinander.
Ich werfe mir meinen Mantel über und nach einer kurzen Fahrt sind wir schon mitten in der überschaubaren Innenstadt. Blumenkästen auf den Balkonen, Menschengetümmel auf den Gehsteigen und nur wenige Autos bewegen sich auf der Straße. Annie und ich sind gerade auf dem Weg zum Eissalon, als ich bemerke,dass sie fast jede Person freundlich grüßt. Hier kennt wohl jeder jeden. Auch Klatsch und Tratsch scheint sich blitzartig zu verbreiten, da ich die Blicke und das Gerede der neugierigen Stadtbewohner in meinem Nacken förmlich spüren kann. Nach zwei Kugeln Pistazieneis und einem Sommerspaziergang, begeben wir uns wieder zurück zur Villa.
Da es inzwischen schon nach zehn Uhr ist, mache ich mich bettfertig und lege mich in mein kleines Wolkenreich, um Ruhe zu finden.
Doch so einfach ist das nicht. Obwohl sich die Müdigkeit langsam, aber sicher an mich heranschleicht, quält mich ein Gedanke. Der Gedanke an das Buch. Wie soll ich jemals ruhig schlafen können. Indem ich jede Nacht mit ungenutzter Lebenszeit vergeude? Ich könnte in meinen Träumen Abenteuer jenseits meiner Vorstellungskraft erleben! Und was hält mich davon ab? Annies gut gemeinter Rat? Oder etwa die Tatsache, dass mir das Buch den Kopf verdrehen und den Schlaf rauben wird? Denn dafür ist es sowieso schon zu spät. Das Einschlafen fällt mir schwer und obwohl ich mich bemühe, nicht an „Traumwelten" zu denken, kann ich der Intuition nicht Stand halten. Vielleicht sollte ich versuchen mich auf eine bestimmte Geschichte zu konzentrieren. „Alice im Wunderland" zum Beispiel. Es war einmal ein Mädchen, namens Alice. Diese folgte einem weißen Kaninchen mit pinken Augen durch ein Loch in eine unfassbar kuriose Welt. Es erschien ihr wie ein Traum... Und nun bin ich wieder an dem Punkt angelangt. Traum. Es gibt keinen Ausweg! Manchmal muss man tun, was man tun muss. Entschlossen schleiche ich auf den Flur, um zur Tür der Bibliothek zu gelangen. Als ich sie öffne, erkenne ich erleichternd, dass das Licht bereits erloschen wurde. Ein gutes Zeichen. Annie schläft und ich habe den Raum ganz für mich allein. Ich knipse die Lampe an und klettere die Leiter hoch, um das Buch zu finden. Sachbücher, Märchen, Romane, ... Alles, nur nicht das, nachdem ich suche. Verzweifelnd durchstöbere ich ein Regal nach dem anderen. Es kommt mir so vor, als würde ichschon eine knappe Stunde suchen. Kurz bevor ich aufgeben will, finde ich es.Endlich! Am Fußboden liegend, versteckt hinter einem Stapel Bücher, entdecke ich das lederne Buch. Im Moment, als ich es aufschlage und zu lesen beginnen will, höre ich Geräusche auf dem Gang. Oh nein! Annie. Mein Herz rast und dieTatsache, dass mich meine Tante auf frischer Tat ertappen könnte, macht mir Angst. Hastig betätige ich den Lichtschalter. Krampfhaft stehe inmitten des Raumes und versuche mich weder zu bewegen, noch einen Ton von mir zu geben. Gespannt lausche ich den Schritten im Vorraum. Aus dem nichts werden sielauter, im nächsten Moment wieder leiser. Ein Stein fällt mir vom Herzen, als sie endlich ganz verstummen. Das Buch hier zu lesen, erscheint mir unmöglich, deshalb drücke ich es fest an meine Brust und laufe zurück in mein Zimmer.
Nun muss ich alle möglichen Sicherheitsmaßnahmen treffen, um einen Blick in das verbotene Schriftstück werfen zu können. Jedes laute Geräusch wäre zu riskant. Ich tapse durch den dunklen Raum, greife nach meiner Taschenlampe und verkrieche mich unter der Bettdecke. Wo ist Annie stehen geblieben? Ach ja, das Erlernen luzid zu träumen. Ich blättere durch die Seiten des Buches. Es sieht schon ziemlich mitgenommen aus und hat nur wenige Bilder. Im Anschluss an das erste Kapitel, schmückt eine Zeichnung die Seite. Ein Mann, welcher auf demBoden einer Straße schläft. Obwohl er in solch armen Verhältnissen lebt, lächelt er. Über ihm schwebt eine Gedankenblase, welche seine Träume verdeutlicht. Nämlich, dass er mit seiner Familie vor einem großen Haus steht. Ich will gerade weiterlesen, als ich etwas Sonderbares bemerke. Das Wort: „Klartraum" ist mit einem Stern markiert. Ich frage mich, wieso dieses Wort herausgehoben wurde und versuche der Frage auf den Grund zu gehen. Wie verrückt geworden, blättere ich durch das Buch und entdecke auf der letzten Seite des Buches das Ebenbild des Sternes. Darunter wurde ein Briefumschlag eingeklebt. Gespannt öffne ich den Umschlag und ziehe ein weißes Blatt Papier hinaus.
„Eine Karte des Hauses."
sage ich zu mir selbst. Die Räume der Villa sind darauf schematisch abgebildet. Es ist schwer die Karte richtig zu entziffern. Meine Neugier wurde geweckt. Bei genauerem Hinsehen, erkenne ich ein markantes rotes X in einem Raum unter der Eingangshalle. Wieso muss man immer in den Keller geführt werden? Das könnte der klischeehafte Beginn eines schlechten Horrorfilmes werden. Das junge Mädchen mit den roten Haaren wurde in eine Falle gelockt, um im Keller ihrem Schicksal ins Auge zu blicken. Vielleicht sollte ich kein Risiko eingehen und besser morgen bei Tageslicht den Keller erkunden. Ich verstecke das Buch mit der Karte unter meinem Kopfkissen. Noch ein Blick auf den Wecker. 4:30. Es wird jede Nacht später... Als der Gedanke an Schatzkarten und Leichen endlich verschwunden ist, schlafe ich ein.

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