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"Deep into that darkness peering, long I stood there, wondering, fearing, doubting, dreaming dreams no mortal ever dared to dream before."

~ Edgar Allan Poe

Ich irre planlos eine dunkle Gasse entlang und versuche mein Ziel zu erreichen. Wohin ich gehe, das weiß ich nicht. Da höre ich plötzlich Schritte hinter mir, doch ich wage es nicht, mich umzudrehen. Mein Schritt beschleunigt sich und ehe ich mich versehe, renne ich. Schneller und immer schneller. Ich versuche in einer Seitengasse Zuflucht zu finden und verstecke mich hinter einem großen Müllcontainer. Die Schritte sind weg. Ich nehme nur noch die bedrückende Stille der Einsamkeit wahr.

„Mein Kind, du musst aufstehen! Es ist bereits sechs Uhr und du willst doch nicht deinen Flieger verpassen."
Ich kann deutlich hören, wie meine Mutter mit voller Kraft die Vorhänge zur Seite zieht. Die Sonne lässt mein Zimmer hell erleuchten. Halbverschlafen presse ich meine Augen zu Schlitzen zusammen, da ich mich erst einmal an das grelle Tageslicht gewöhnen muss. Schließlich stehe ich auf, ziehe mir widerwillig das grasgrüne Sommerkleid an, welches mir meine Mutter am Vortag gekauft hat, binde mein dunkelrotes Haar zu einem Zopf zusammen, nehme meinen Lederkoffer und mache mich auf den Weg in die Küche.
„Hast du auch nichts vergessen? Zahnbürste, Unterwäsche und Regenschirm. Hast du alles dabei? Denn du weißt, dass in Großbritannien Regen auch im Juli keine Seltenheit ist."
Ich versichere meiner Mutter, dass ich nichts vergessen habe, als sie auf ein Neues beginnt:
„Brieftasche, Nachthemd und Reisepass, alles eingepackt?"
Plötzlich fällt mir ein:
„Oh nein! Wo ist mein..."
„Reisepass?"
Mit stolzer Miene überreicht mir meine Mutter den Pass. Rein intuitiv werfe ich einen Blick in das Dokument. Mein 14-jähriges Ich sieht mich verdutzt an, meine Haare waren damals kürzer und ich hatte mehr Sommersprossen als heute im Gesicht. Rosemary Elizabeth Adams. Nicht nur bei meinem Vornamen, sondern auch bei Zweit- und Nachnamen hat meine Mutter ihren eisernen Willen durchgesetzt. Da mein englisches Blut kein Geheimnis bleiben sollte, war sie bei meiner Geburt strikt gegen den Namen Weiss.
Bereit für meine Abreise, fährt mich meine Mutter zum nahe gelegenen Flughafen. Der Flieger startet um 9:30 und kommt drei Stunden später in London an. Von dort geht meine Reise mit dem Zug weiter, denn meine Tante lebt in einem kleinen Ort im Norden von England.
King's Cross Bahnhof, London. Als ich das Getümmel auf dem Bahnhof erblicke, ist die Wut auf meine Mutter fast verflogen und die Neugier umso größer. Ich fühle mich ein wenig wie Harry Potter in seinem ersten Schuljahr. Die Aufregung ist groß, denn ich mache mich zum ersten Mal in meinem Leben alleine auf den Weg ins Ungewisse. Als ich in den kleinen roten Wagon steige, bemerke ich, dass der Zug in mehrere kleine Abteile gegliedert ist. In fast Jedem sitzen mehrere Menschen. Manche in ein Gespräch vertieft, Andere starren schweigend ins Leere. Erleichtert entdecke ich ein Abteil, in dem nur eine Dame mittleren Alters sitzt und aus dem Fenster starrt. Sie hat braunes Haar und trägt ein elegantes rosafarbenes Kostüm. Höflich frage ich, ob ich mich zu ihr setzen darf. Sie nickt und widmet sich wieder dem Landschaftsbild. Bis auf die einigen kleinen Höflichkeitsfloskeln, verbringe ich die Zeit im Zug schweigend. Ab und zu wirft mir die Dame einen ermahnenden Blick zu, als sie mich beim Kauen an meinen Fingernägeln erwischt.
Das Wetter ist wie erwartet äußerst wechselhaft. Ich suche, mit meinem Regenschirm in der Hand, den Zettel, den mir meine Mutter heute Morgen gegeben hat. „Gardenstreet 19. – ein schwarzer Mercedes". Ich befolge der Anweisung und halte Ausschau nach der Straße und dem Auto. Bereits nach kurzer Suche, erblicke ich den Wagen und einen fein gekleideten Mann, welcher mir bereits die Tür aufhält.
„Sie müssen Miss Adams sein. Sie sind ihrer Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten."
Der britische Akzent des Mannes lässt seine Worte noch vornehmer wirken. Mit einem Nicken bestätige ich seine Aussage und steige in den Wagen. Müde von der langen Reise starre ich während der Autofahrt aus dem Fenster. Unzählbar viele Schafe auf den saftig grünen Wiesen, kleine Backsteinbauten und der graue Himmel, der von Wolken dominiert ist und die Sonne nicht gern zum Vorschein kommen lässt. All dies zieht mich in seinen Bann. Schließlich entfernen wir uns von der Stadt und ich sehe nur noch wenige Häuser und Scheunen. Das Auto biegt an der nächsten Abzweigung rechts in einen bewaldeten Weg ein und das Landschaftsbild verändert sich schlagartig. Vor wenigen Minuten beobachtete ich glückliche Schafe beim Grasen und nun bestaune ich die erdrückende Dunkelheit des Waldes. Doch obwohl mir der Nadelwald einen Schauer über den Rücken jagt, hat er etwas Magisches an sich. Als die Bäume wieder an Dichte verlieren, kann ich das Ende der Straße erkennen, an dem sich ein großes Haus befindet. Je mehr wir uns dem Gebäude nähern, desto größer wird meine Aufregung. Ich erkenne einen großen Holzbau mit vielen Fenstern, manche sind groß und manche klein. Das Haus ist in einem dunklen Blauton gestrichen und Efeustauden klettern die Holzfassade hinauf. Wir fahren durch ein Schmiedeeisentor, auf dem ein verrostetes Bleischild befestigt ist. Schwer leserlich ist der Name „Adams" darauf verewigt worden. Ein schmaler Weg führt uns durch den gepflegten Vorgarten zur Eingangstür. Obwohl ich meine Tante noch nie zuvor besucht habe, kommt es mir so vor als wäre ich schon Mal hier gewesen. Alles erscheint mir so vertraut.
Der Herr öffnet mir die Autotür und ich mache mich auf den Weg zum Eingang. Drei Mal klopfe ich, als mir schließlich meine Tante Eintritt gewährt. Sie hat sich kein bisschen verändert. Ihr rotbraunes Haar hat sie mit einer Spange nach oben gesteckt. Trotz der ausgeprägten Lachfalten und grauen Strähnchen, strahlt sie Jugendlichkeit und eine belebende Frische aus.
„Hi, Darling!"
Sie nimmt mich in die Arme und ich fühle mich sofort willkommen. Annie lächelt mich an und sagt:
„Wow! Als wir uns zum letzten Mal sahen, warst du noch ein kleiner Zwerg und jetzt siehst du so erwachsen aus. Wie eine richtige junge Lady."
Ihr bezauberndes Lachen hat mich sofort angesteckt und ohne zu zögern erwidere ich es. Sie wendet sich dem Mann zu:
„Thanks a lot Leonard. Du kannst dich nun wieder deiner regulären Arbeit widmen."
Leonard nickt, nimmt meinen Koffer und macht sich auf den Weg in das Haus. Ich bedanke mich für die freundliche Geste und folge ihm in die Eingangshalle. Auch das Innere des Hauses hat etwas Märchenhaftes an sich. Es überwältigt mich nicht nur an seiner Größe, sondern auch die Einrichtung fasziniert mich. Dunkle Holzmöbel, zahlreiche Gemälde von wunderschönen Landschaften an den Wänden und bunte Teppiche zieren den Marmorboden.
„Uh, es ist bereits halb fünf. Zeit für eine Teepause." Annie führt mich durch das Wohnzimmer, welches von einer großen dunkelroten Couch dominiert wird. Eine antike Tür mit Holzfronten weist uns den Weg in den Garten. In den wundervollsten Garten, den ich je in meinen Leben erblicken durfte. Rosengewächse bewuchern die Steinmauern, welche das Areal umgeben. Bäume, die hoch in den Himmel reichen, tragen leuchtende Sommerfrüchte. In einem kleinen Pavilion wurde bereits ein Tischchen gedeckt und wartet auf unsere Ankunft.
„Thank God, Leonard hat uns bereits Tee aufgesetzt. Ich hoffe du magst grünen Tee."
Ich nehme auf dem reichlich verzierten Gartenstuhl Platz und widme mich meiner Tasse.
„Ich glaube, dass Mum den Garten verabscheuen würde."
Annie verzieht ihr Gesicht und stöhnt:
„Elizabeth und ich sind sehr verschiedene Menschen, Darling. Kreativität und Individualität sind ihr fremd. Diese Tatsache muss man akzeptieren und versuchen zu verstehen."
Ich nehme mir einen Butterkeks und denke über die Aussage meiner Tante nach. Sie hat voll und ganz Recht. Obwohl sie und meine Mutter Zwillingsschwestern sind und aus demselben wohlhabenden Haus stammen, könnten sie nicht unterschiedlicher sein. Nicht nur äußerlich, sondern auch ihre Charakterzüge sind von Grund auf verschieden. Annie ist ein Freigeist. Sie hat schon immer das gemacht nach dem ihr gerade war und dabei wenig Wert auf die Meinung anderer gelegt. Deshalb ließ sie sich auch nie auf einen festen Bindungspartner ein. Im Gegensatz zu meiner Mutter, der ihr Image viel zu viel bedeutet. Sie würde niemals etwas wagen, was ihren Ruf ins Wanken bringen könnte. Manchmal denke ich, dass es für sie die größte Enttäuschung sein muss, ein unbeliebtes Mauerblümchen wie mich als Tochter zu haben.
Als wir unseren Tee getrunken haben und ich erschöpft gähne, beschließt Annie:
„Du bist bestimmt müde von der anstrengenden Reise. Am besten zeige ich dir dein Zimmer, damit du dich ausruhen und einleben kannst."
Sie nimmt mich an meiner Hand und zieht mich durch das Haus, die Treppe hinauf und stoppt an einer dunklen Zimmertür im ersten Stock.
„Hinter dieser Tür verbirgt sich dein Schlafzimmer. Ich habe es für deine Ankunft einrichten lassen."
Meine Tante zeigt zum Ende des Ganges:
„Der letzte Raum ist meine kleine hauseigene Bibliothek. Mein Lieblingsort im ganzen Haus. Dort wirst du mich auch die meiste Zeit über vorfinden können. Wenn du zu mir kommst, dann werde ich dir Geschichten vorlesen, so wie früher. Kannst du dich noch daran zurückerinnern?"
Ohne groß darüber nachzudenken, schmunzle ich vor mich hin.
„Ach ja, mein Schlafzimmer befindet sich im Erdgeschoss. Nun will ich dich nicht weiter mit meinem ewigen Gerede nerven, bis später!"
Dieses Gefühl. Wenn man vor einer Tür steht und nicht weiß, was einen erwartet. Als sich Annie entfernt hatte, öffne ich die quietschende Tür und die Aufregung Neues zu entdecken kommt wieder in mir auf. Das Zimmer, welches mir für den nächsten Monat zusteht, kann ich mit nur einem Wort beschreiben: Perfekt. Es ist zwar nicht besonders groß, aber dafür umso liebevoller eingerichtet. Die Wände sind in einem angenehmen Fliederton gestrichen. In der Mitte des Raumes befindet sich ein Himmelbett, welches viele bunte Kissen zieren und zu meinem Erstaunen habe ich sogar mein eigenes Badezimmer. Auch mein Koffer wartet bereits auf mich. Doch Anstelle meine Sachen auszupacken, werfe ich mich aufs Bett und verfalle in einen tiefen Schlaf.

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