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"When I waked, I cried to dream again."
~ William Shakespeare

Kalter Steinboden berührt unsanft meine Haut. Ich vernehme das Rauschen von fließendem Wasser in der Ferne. Wo bin ich? Vorsichtig öffne ich meine Augen. Alles erscheint mir so komisch. Eben war ich doch noch im Keller meiner Tante und nun liege ich in einer Höhle. Wie ist das möglich? Ist das alles nur ein Traum? Als ich an mir herabblicke, bemerke ich, dass ich immer noch das rote Kleid trage. Auch mein Rucksack befindet sich neben mir auf dem Fußboden. Ich richte mich langsam auf und versuche dem schwachen Lichtstrahl, welcher das Innere der Grotte erleuchtet, zu folgen. Ich habe das Ende der Höhle erreicht, als mich das grelle Tageslicht blendet. Der betörende Duft von Orangenblüten steigt mir in die Nase. Bäume mit blauen Blättern, kleine Kreaturen fliegen durch die Lüfte und ein Bächlein mit klarem Wasser fließt an mir vorbei. Natürlich! Das ist der Wald, welcher immer wieder in meinen Träumen vorgekommen ist. Doch, es ist anders, als die letzten Male. Der Geruch ist intensiver, die Farben sind leuchtender und der Schleier, welcher sonst meine Träume unwirklich erscheinen lässt, ist verschwunden. Ich pflücke ein Gänseblümchen und bemerke erstaunt, dass ich es genauso fühlen kann, als wäre es real.
„Eigenartig."
Sage ich zu mir selbst. Neugierig blicke ich um mich herum. Mitten im Wald steht eine lila Holztür. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass diese vor einer Minute noch nicht hier war. Auf ihr befindet sich ein Schild mit der Aufschrift: „Realität". Nach kurzem Überlegen, bewege ich mich auf sie zu, um sie zu öffnen, doch sie ist verschlossen. Ich versuche herauszufinden, in welch sonderbaren Welt ich mich befinde. Doch, zurzeit fällt es mir äußerst schwer, Traum von Wirklichkeit zu differenzieren. Diese Aufschrift verleitet mich dazu in eine Richtung zu denken, welche mich etwas beunruhigt. Wenn das hier die Tür zu Realität ist, muss das wohl oder übel bedeuten, dass ich in meinem Traum eingeschlossen bin. Aber das ist doch unmöglich. Ein Traum ist bloß die Verarbeitung von Sinneseindrücken, welcher in meinem Kopf stattfindet. Bin ich etwa verrückt geworden? Daran ist nur diese Kette schuld! Ich nehme das Amulett in meine Hände und werfe es zynisch auf den Waldboden.
„Du verflixte Kette! Ich will zurück nach England, in den Keller meiner Tante!"
Meine Wut kocht über und ich habe keine Kontrolle mehr über meine Gefühle. Ich breche in Tränen aus und ich kann mich nicht davon stoppen, ins Gras zu fallen. Mein Gesicht verberge ich in meinen Händen und ich versuche mich zu beruhigen. Meine Mutter würde jetzt sagen:
„Du bist fast 18 Jahre alt, Rosemary. Also reiß dich zusammen, steh auf und benimm dich nicht wie ein Kleinkind."
Bei diesem Gedanken kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich hänge mir das Amulett wieder um den Hals und trinke einen Schluck Wasser aus der Flasche, welche ich mir zuvor in den Rucksack gepackt habe. Jetzt heißt es nachdenken. Was würden Robinson Crusoe oder die fünf Freunde in dieser Situation machen? Auf jeden Fall würden sie nicht tatenlos in der Wiese sitzen und Trübsal blasen. Ach, wie gern würde ich gerade mir Annie eine Tasse Tee trinken. Sogar über die Anwesenheit meiner Mutter wäre ich im Moment erfreut. Tränen kullern wieder meine Backen herab. Ich verstecke mich hinter meinen Handflächen, als ich ein Rascheln vernehme. Was ist das? Vielleicht ein wildes Tier? Ich höre eine Stimme:
„Ist hier jemand?"
Durch die Schlitze meiner Finger kann ich die Umrisse einer Gestalt erkennen. Es ist ein... ein Junge? Ich nehme meine Hände von meinem Gesicht und sehe, wie sich ein Jugendlicher mit dunkelbraunem, zerzaustem Haar auf mich zu bewegt.
„Wer bist du?"
fragt er ernst. Ich antworte mit einer Gegenfrage:
„Wer bist du und was ist das für ein Ort?" Rasch sagt er:
„Ich habe zuerst gefragt."
Er setzt sich neben mich ins Gras und ich bemerke, wie sich seine ernste Miene lockert. Als er meine roten Augen und Tränen erblickt, zieht er ein Stofftuch aus seiner Tasche und reicht es mir. Schluchzend trockne ich meine feuchte Haut. Der Junge erscheint mir kaum älter als ich es bin. Ich schätze ihn 19 oder 20 Jahre ein. Nach einer kurzen Schweigepause, in der wir uns gegenseitig mustern, wage ich es zu sprechen:
„Ich bin Rosemary. Wie ist dein Name"? Schlagartig verändert sich der Gesichtsausdruck des Jungen.
„Du bist doch nicht etwa ein Träumer, oder?" fragt er geschockt. Mein verwirrter Blick sagt mehr als tausend Worte.
„Ein Träumer? Ein menschliches Wesen, welches nachts träumt?"
Skeptisch nicke ich. Der Junge springt hektisch auf.
„Oh nein, oh nein! Wie hast du es geschafft hierher zu kommen? Nicht schon wieder! Ich dachte es sind alle zerstört..."
Diese Sache wird für mich immer verwirrender. Im Moment verstehe ich überhaupt nichts mehr.
„Kannst du bitte Klartext mit mir reden!"
„Nicht hier. Nimm deine Sachen und folg mir!"
Er hastet so schnell durch den Wald, dass es mir schwer fällt nachzukommen. Wunderschöner Glitzer fliegt durch die Lüfte, als wir an einem Schwarm Feen vorbeieilen. Schließlich gelangen wir auf einen Kieselweg. Auch dieser ist von hohen Laubbäumen umgeben. Mir kommt es wie eine halbe Ewigkeit vor, die wir damit verbringen durch den Wald zu rasen. Alle Fragen, die ich stelle, werden ignoriert. Obwohl ich nicht weiß, wohin wir gehen, bin ich froh nicht mehr allein zu sein. Versteckt hinter Bäumen, erreichen wir eine Holzhütte. Der Junge sperrt die Tür auf, bittet mich darum, dass ich mich auf einen Stuhl setze und zieht nervös die Vorhänge der Fenster zu.
„Also, wie genau bist du hierher gelangt? Du musst mir alles bis ins kleinste Detail erzählen."
Ich schlage meine Beine übereinander und beginne zu berichten:
„Vor einigen Tagen habe ich meine Tante besucht und ein Buch, namens „Traumwelten" gefunden. Ein Hinweis, welcher darin versteckt war, hat mich anschließend zu einem Amulett geführt. Ich habe es mir umgehängt und jetzt bin ich hier."
Der Junge starrt vor sich hin.
„Zeig mir das Amulett."
Bitte und Danke erscheinen ihm wohl fremd. „Hier!"
Er nimmt es in seine Hände und tastet es vorsichtig ab:
„Der luzide Granat... Ich nehme mal an, dass du keine Ahnung hast, um welches Schmuckstück es sich hierbei handelt. Dieser rote Stein hier ist einer von fünf luziden Edelsteinen. Es wurden der Quarz, der Amethyst, der Smaragd, der Türkis und der Granat mithilfe eines äußerst aufwendigen Verfahren in luzide Juwelen umgewandelt und als Kettenanhänger verarbeitet. Diese Steine haben eine enorme Wirkung und können in den falschen Händen großen Schaden anrichten. Sie ermöglichen Träumern, wie du einer bist, von der Realität in unsere Welt zu gelangen. Der Traumwelt. Jedoch nahmen wir an, dass alle Amulette vernichtet wurden."
Das war zu viel Information auf einmal.
„Also, ist das hier nur ein Traum?"
„Mehr oder weniger, ja. Jedoch konntest du jemals zuvor deinen Traum selbst steuern?" Erst jetzt bemerke ich, dass ich schon die ganze Zeit über, das mache, was ich will. Es war meine Entscheidung, dem Jungen zu folgen und nicht der Wille meines Traumes. „Der wesentliche Unterschied ist aber nicht, dass du eigenständig denken kannst, sondern dass du dich in der wahren Welt der Träume befindest. In einer Art Paralleluniversum. Alles, was du bisher geträumt hast war nur Schein. Eine Täuschung, welche wir für dich erschaffen haben, genauso, wie wir sie für jeden anderen Menschen auf der Welt produzieren. Träumer sind der festen Überzeugung, dass sie Nacht für Nacht das Erlebte des Tages verarbeiten und dabei ihre wahren Emotionen zum Vorschein kommen. Es soll auch bei dieser falschen Vermutung bleiben, jedoch ist es vollkommener Blödsinn. Wir stecken dahinter!"
Für das finde ich keine Worte, außer:
„Ich muss verrückt sein."
Der Junge lächelt und schenkt mir eine Tasse Tee ein.
„Wie könnt ihr unsere Träume erschaffen? Und wer seid ihr eigentlich? Wie kann ich wieder in meine Realität zurück gelangen? Ich habe so viele Fragen! Und..."
Ich lege eine kurze Pause ein, um Spannung aufzubauen.
„Wer bist du?"
„Also erstmals, mein Name ist Ozz Trix. Und wir sind die, welche hier in der Traumwelt leben. Unsere Bevölkerung ist grob in drei Gruppen eingeteilt. Es gibt die Administraris. Ihre Aufgabe ist es, über jeden Menschen so viel Information wie möglich herauszufinden, damit wir ihre Träume individuell anpassen können. Sie verbringen Tagein Tagaus in einem gigantischen Gebäude, welches mit selbstverfassten Büchern vollgestopft ist. Administraris nutzen sogenannte Zweigesichterspiegel, welche es ihnen ermöglichen, einen Blick in das Leben jedes einzelnen Menschen der Erde zu werfen. Ich gehöre zu den Crearis, das heißt, ich habe Kräfte mit denen ich fast alles erschaffen kann, was in den Träumen der Erdlinge vorkommen soll. Außer den Tot. Einem Creari ist es unmöglich den Träumer sterben zu lassen. Die wenigen Magicas unter uns, sind vier Zauberer und eine Hexe, welche unsere Welt mit einem Bann belegt haben. Dieser besagt, dass Menschen während dem Schlafen, alles was wir ihnen bieten nur schleierhaft wahrnehmen können. Uns blenden sie dabei vollkommen aus. Regiert wird diese Welt von unserer Königin Dignitas. Da du eine Gefahr für unsere Welt darstellt und das komplette System zerstören könntest, wird es für dich schwierig wieder nach Hause zurückzukehren. Du musst erst Mal die Latrix, das Portal zur „Realität" öffnen und das ist so gut wie unmöglich."
Ich kann es einfach nicht glauben.
„Was? Eine andere Welt, in der Menschen leben, die unsere Träume erschaffen? Jetzt bin ich vollkommen übergeschnappt. Das kann doch nicht wahr sein..."
Völlig außer mir, nehme ich einen Schluck vom Tee.
„Erstens, wir sind keine Menschen. Sondern du bist ein Mensch. Zweitens, ich verstehe, dass das ein Schock für dich sein muss, deshalb kannst du auch bei mir bleiben, dich ausruhen und schlafen. Also, wenn das für dich in Ordnung ist?"
Ich nicke.
„Danke. Das ist wirklich freundlich. Aber eine Frage hätte ich noch. Wie komme ich wieder nach Hause?"
Er zieht die Vorhänge wieder zur Seite und überrascht bemerke ich, dass es bereits dunkel geworden ist.
„Darum kümmern wir uns morgen. Du kannst in meinem Bett schlafen."
Er zeigt mir sein Zimmer und ich werfe mich sofort ins Holzbett. Innerhalb weniger Minuten bin ich eingeschlafen.

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