Kapitel 1 - Nathan

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„Liebe Rose,
ich bin's, diejenige, die als einzige immer für dich da war. Ich weiß, dass du mich hasst und dass du oft versucht hast mich loszuwerden, aber ich weiche keinen einzigen verfickten Schritt von deiner Seite. Ich war bei dir, als deine Mutter an Krebs starb, ich war bei dir, als du das erste mal Liebeskummer hattest, ich war sogar bei dir, als du selbst deine letzten Freunde verloren hast und als dein Zwillingsbruder abgehauen ist. Glaubst du wirklich ich lasse dich nach diesen Erlebnissen einfach von mir trennen? Hahaha oh Gott nein! Glaub mir, ich werde immer für dich da sein, denn nun gibt es nur noch deinen Vater, dich und natürlich mich. Du weißt, dass wir unzertrennlich sind.
Deine beste Freundin, die Depression :)"

[🗝]

„Fuck, fuck, fuck!", schreie ich meinen Wecker an, naja, besser gesagt, meine vielen Wecker auf meinem Handy. Ich habe mal wieder nicht schlafen können. Ich denke täglich an meinen Zwillingsbruder und an meine Mutter. Ich vermisse sie so sehr. Mein Vater zerbrach, als meine Mutter von uns ging und mein Zwillingsbruder hat es bei uns nicht ausgehalten. Wie immer konnte er nur an sich denken und hat uns verlassen. Wieso denn auch nicht? Es ist ja nicht so, dass mein Vater mich hasst und mich am liebsten auf die Straße schicken würde. Vielleicht sollte ich gleich auf den Strich gehen und mir mein Hirn aus den Kopf ficken lassen, dabei am Besten täglich mit Drogen vollgepumpt sein und nichts fühlen. Einfach nur nichts.

Ich muss mich täglich wegen meiner Ausdrucksweise entschuldigen. Niemand kommt damit klar, dass jemand so ehrliche und kalte Sätze von sich gibt, wie ich. Das liegt einfach nur daran, dass hier jeder mit Lügen lebt. Selbst ich ein bisschen.

„Mach disn wekha ausss", glaube ich von meinem Vater gehört zu haben. Ich bin zu müde, um zu verstehen, was er wirklich gesagt hat. Ich habe euch noch sehr viel nicht erzählt z.B. dass mein Vater zu einem Alkoholiker wurde. Dank diesem wundervollen Geschöpf, der mich leider gezeugt hat, liege ich hier und möchte viel lieber mein Leben mit jemandem tauschen.

Wisst ihr eigentlich wie scheiße es ist so zu leben wie ich? Mein Haus ist die reinste Bruchbude, wir sind dazu noch pleite, unsere Familie kann man eigentlich nicht mehr Familie nennen, ich bin scheiße, mein Vater ist scheiße, mein Bruder ist scheiße, der Krebs meiner Mutter war mehr als nur scheiße und niemand ist mehr für mich da.

Ich stehe ungewollt auf, klatsche mir viel Concealer unter die Augen und gehe runter zu meinem Vater. Er liegt auf der Couch und schläft zum Glück wieder. Ich schaue hinter ein Bild, worauf meine ganze noch gesunde und glückliche Familie zu sehen ist und bemerke, dass mein Geld weg ist. „Arsch", flüstere ich vor mich hin. Dass er nicht einmal etwas Geld dalassen kann ist auch sehr hilfreich in meinem Leben. Wütend gehe ich raus und knalle die Tür hinter mir zu. Ich höre noch ein: „EYYY", aber das interessiert mich recht wenig.

Heute bin ich sogar irgendwie halbwegs ok gelaunt, was jetzt nicht so den Anschein machte, aber was soll's. Ich laufe mit meinem Vans Rucksack meinen kurzen Schulweg entlang und erblicke langsam die Schule hinter den Bäumen, als ich von hinten angetippt werde.

„Rose!", keucht jemand. Diese Stimme kommt mir verdammt bekannt vor. Ist es nicht... „NATHAN!", schreie ich, während ich meinen lang verschollenen Bruder mit seiner geliebten Sonnenbrille umarme und ihn im Nachhinein schlage. Das hat er sowas von verdient. „Rose beruhig dich, ich habe einfach nur eine Auszeit gebraucht", meint er jedoch. Eine Auszeit? Hahahaha. Ich doch auch und trotzdem blieb ich. Nur das sollte ich lieber nicht sagen. Er ist ja wieder da. „Hmm, dad ist ein Arsch!", meckere ich rum, „du hast überhaupt nichts gutes verpasst. Wieso bist du denn noch zurück gekommen. Alles ist besser als dieses Leben hier!". Nathan schweigt. Er schweigt normalerweise nie. Nach einer Zeit meint er dann: „Rose, ich habe scheiße gebaut! Aber keine Sorge, wir schaffen das, zusammen"

Und da stehe ich nun. Wieder mit Nathan vereint und mit noch mehr Problemen, von denen ich erst gar nichts wissen will, als vorher. Er macht das immer so. Er kommt nur zu mir, wenn er Probleme hat und trotzdem liebe ich ihn. Er ist der einzige, den ich liebe.

„Mhm was hast du gemacht? Hast du Schulden? Etwas gestohlen? Oder hast du doch jemanden umgebracht?", lache ich. Nathan rollt bestimmt unter seiner Sonnenbrille die Augen. „Ja ok sorry, was ist passiert?", entschuldige ich mich ruhig. Er schweigt wieder. Wieso tut der das? Hätte er keine Brille an, könnte ich mir sichergehen, ob er nicht gleich anfängt zu weinen.

Ich spüre, dass er verletzt ist. Ich merke es immer, wenn es Nathan nicht gut geht. Aber wieso sollte es ihm auch gut gehen? Wir hatten nie so ein tolles Leben.

„Nathan? Zeig mir deinen Arm!", fordere ich ihn auf. Er lacht: „Hey, hast du keinen Vertrauen in mir? I-„. Ich unterbreche ihn und schaffe es nach einem kurzen Kampf seinen Ärmel hochzuziehen. Stiche. Dabei ist seine Brille abgefallen. In seine Augen zu schauen, schmerzt mich. Sie sind verheult. Mir rollt ungewollt eine Träne über meine Wange. „Scheiße!", gebe ich von mir und umarme ihn.

Von wegen mir geht es heute ‚ok'. Mir geht es wieder so wie immer. Beschissen leer. Die einzige Person, die ich liebe, ist wieder drogenabhängig. Ich weine in den Pulli meines Bruders und er in mein T-Shirt. Ich hätte es mir früher denken können. Wieso sonst hat er ein Pulli in dieser Hitze an?

„Es tut mir Leid", weint er. Das weiß ich und trotzdem wurde er rückfällig. Ich löse mich von ihm und meine dann: „Ok, du gehst in unsere Hütte und nach der Schule überlegen wir uns was, ja?" Nathan nickt. Ich weiß nicht, ob er wieder abhaut oder nicht, aber irgendetwas in mir, sagt mir, dass er diesmal bleibt. Er muss es einfach.

Nathan fing mit dem Drogenkonsum an, als unsere Mutter noch lebte. Erst kamen die Kippen, dann mit 14 kiffte er. So blieb es eine Zeit, bis unsere Mutter starb. Er fing sich zu der Zeit an Heroin zu spritzen. Da waren wir 15. Verfickte 15! Ich meine kennt ihr jemanden, der es mit 15 macht? Ich weiß nicht mal, woher er das Zeug überhaupt bekam. Aber wir haben es geschafft ihn davon wegzubekommen. Es war schrecklich. Wir hatten kein Geld für eine Entzugsklinik und mussten es in unserer Hütte machen.

Die Hütte war früher unser Versteck. Wir sind nachts dort zusammen hingeschlichen und haben dort übernachtet. Die Hütte ist groß und von innen schön geschmückt. Es hängen Lichterketten an den Wänden und viele süße Bilder aus der Kindheit. Auf dem Boden liegen viele Kissen und zwei riesige Matratzen. Ich war dort, seitdem Nathan weg war, jeden einzelnen Tag und habe mir weinend die Bilder angeschaut. Mittlerweile sind wir fast 17. Abgehauen ist er, kurz nach unserem 16. Geburtstag.

In der Schule angekommen, sehe ich wieder all' diese Schlampen und fuckboys, Streber und unsere scheiß Lehrer. Ich hasse alle auf dieser Schule. Ich schlendere zu meiner Klasse. Meine Klasse steht schon in dem Gang vor dem Klassenraum und wartet auf den Lehrer. „War vorher Nathan bei dir?", schwärmt die größte Schlampe meiner Klasse, Alice, die uns wohl gesehen haben muss. Ein paar Mädchen drehen sich zu uns um. Mein Bruder war schon immer beliebt und als er verschwand, meinte ich, dass er ein paar Monate im Ausland sein wird. Er ist eine Klasse über mir gewesen, weil ich sitzengeblieben bin. „Ist er wieder zurück?", werde ich von jemandem gefragt. Ich nicke nur und der Lehrer kommt endlich. Wir gehen rein. Wie soll er es so schnell schaffen, einen Entzug zu machen und dann wieder zur Schule zu gehen? Ich hoffe, dass er es diesmal schafft. Er muss es einfach.

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