Quinn
"Dir ist kalt", sagt Ash und legt mir eine Fleecedecke über die Schultern. Wir haben sie vor zwei Tagen in einem Baumarkt gefunden. "Danke", flüstere ich und ziehe den weichen Stoff enger um mich. Mein Bruder setzt sich neben mich und kramt in seiner Jackentasche nach dem kleinen Zippo. Wir haben es uns hinter den Tresen einer verlassenen Tankstelle gemütlich gemacht. Das einzige Gebäude, das wir seit Stunden finden konnten. Nach einem langen Marsch auf den Highways sind wir beide vollkommen erschöpft. "Das Camp ist nicht mehr weit entfernt. In drei Tagen müssten wir dort ankommen", flüstere ich. Ich bin zu müde, um laut zu sprechen. Ash hat mittlerweile das Feuerzeug gefunden und schnappt den Deckel immer wieder auf und zu. Er nickt. "Vielleicht finden wir ein Auto, dann wären wir schneller", entgegnet er.
"Und wie willst du es zum Laufen bringen, geschweige davon damit fahren?", erwidere ich und schüttle den Kopf. Ash ist erst vierzehn und noch zu jung um einen Führerschein zu haben. Mit meinen siebzehn Jahren könnte ich zwar einen besitzen, aber bisher habe ich einfach keinen benötigt. Ich konnte ja nicht wissen, dass innerhalb weniger Wochen eine tödliche Seuche ausbrechen würde und sich ein paar Fähigkeiten in Sachen Autofahren als nützlich erweisen würden.
"Vielleicht finden wir ja zwei Fahrräder", schlage ich vor und sehe Ash aus müden Augen heraus an. Der schnaubt verächtlich und schnappt das Zippo wieder zu.
"Genau. Und dann treten wir uns durch den Schnee."
Ich zucke mit den Schultern. Aber mein Bruder hat Recht. Die Straßen sind mit Schnee bedeckt und noch immer schneit es wie verrückt. Ein Fahrrad ist in dem Fall nutzlos.
"Lass uns das morgen früh besprechen." Für ausführliche Überlegungen bin ich nicht mehr im Stande. Ich will eigentlich nur noch schlafen. Ash steckt das Feuerzeug wieder in seine Jackentasche und kramt stattdessen eine Tüte Chips hervor.
"Dad wollte mir nächsten Sommer das Fahren beibringen", sagt er. Seine Stimme klingt belegt.
"Er hätte es dir bestimmt gezeigt", flüstere ich zurück. Auch mich macht der Gedanke an meinen Dad traurig.Er und Mum starben, als die Seuche in unserer Stadt ausbrach. Es ging unglaublich schnell. Schon seit einigen Tagen war der Notstand ausgerufen worden, und die meisten öffentlichen Einrichtungen wurden geschlossen. Ash und ich hatten an diesem Tag schulfrei und sahen uns irgendeinen Film im Wohnzimmer an. Dad war im Keller und räumte Vorräte ein als sich meine Mutter plötzlich übergab. Sie hatte zuvor keine Anzeichen von der Seuche gezeigt und jäh lag sie bleich auf dem Küchenboden. Dad kam nach oben gestürmt als er meine Schreie hörte. Er drängte mich und meinen Bruder aus der Küche und schloss die Türe. Doch ich konnte seinen angsterfüllten Blick sehen, genauso wie das hervorgewürgte Blut meiner Mutter. Mum wurde noch am gleichen Tag von den CDCs, der amerikanischen Schutzbehörde, abgeholt. Den Rest des Tages forderte Dad uns auf unsere Rucksäcke zu packen. Es gibt ein Camp für Überlebende nördlich des Lake Stevens. In der Stadt gab es nach Mums Tod nichts mehr für uns.
Mir wird übel. Dad hat es nicht geschafft. Anders als Mum erkannte er seine ersten Symptome. Ash und ich mussten trotzdem gehen, ohne ihn. Als sich mein kleiner Bruder weigerte, schenkte ihm Dad sein Zippo. Es war sein endgültiges Abschiedsgeschenk.Ash reißt die Plastiktüte auf und angelt sich einen Chip heraus. "Scheiß Seuche", sagt er und beißt zu.
"Stimmt", erwidere ich. Die Seuche hat alle Menschen dahingerafft, die wir kannten. Mein Bruder und ich sind völlig alleine. Ich kann mir nicht Schlimmeres vorstellen, und bei dem Gedanken daran spüre ich heiße Tränen aufsteigen. Ich beiße mir auf die Zunge. Die Übelkeit klingt nur langsam wieder ab. "Denkst du, wir schaffen es?" Ein zweiter Chip landet in seinem Mund. Ich sehe wie auch er versucht seine Tränen zurückzuhalten. Natürlich versucht er stark zu sein. Ich versuche mich an einem aufmunternden Lächeln, was mir jedoch kläglich misslingt. Also nehme ich nur Ashs Hand und drücke sie leicht.
"Ja, wir werden es schaffen. Du und ich wir werden diese ganze Scheiße hier überleben", sage ich zu ihm.
Versprechen kann ich es ihm nicht. Ich bin mir sicher, dass mir mein kleiner Bruder glaubt, aber ob ich es selber tue, weiß ich nicht.

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Die Seuche #FirstBookAward2019
Science FictionDie Seuche bringt den Tod. Wer überleben will muss fliehen. Diese Regel befolgen auch Quinn und ihr kleiner Bruder Asher. Ihr Ziel ist Camp Eden, ein militärisches Auffanglager. Doch selbst hinter seinen schützenden Zäunen ist niemand sicher. Quinn...